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Die agile Kommunikationsexplosion

Mittlerweile habe ich viele Organisationen gesehen, die sich an dem, was sie unter Agilität verstehen, verhoben haben. Das heißt nicht, dass die agile Bewegung nicht erfolgreich war, oder in Teilen erfolgreich. Es heißt, dass unterschätzt wurde, was es bedeutet, wenn man Führung verteilt oder Strukturen und Prozessmuster ändert. Ohne diese langsam zu adaptieren. Oder sich überhaupt erst anzuschauen, ob das alles adaptiv im Sinne von “fähig sich äußeren Bedingungen anzupassen” ist.
Aufwendige Einbindung von Mitarbeitenden und Kunden
Die Mitarbeiterseite ist das eine. Aber auch die Kunden-Einbindung führt nicht zwangsläufig zu mehr Innovation. Kunden wissen oft mehr über ihre Gegenwart als über unsere Zukunft. Bindet man sie in die Produkt- und Prozessentwicklung ein, ist das aufwendig. Fragt man sie nach ihren Wünschen, wollen sie beispielsweise keine Chatbots. KI wie ChatGPT wird nichts grundlegend ändern. Undsoweiter.
Maya ist so eine Sache…
Und dann gibt es da oft einen Innovationsgap: Manche liegen weiter zurück als die Unternehmen, kleben am Fax und Post – oder dürfen bestimmte Lösungen gar nicht nutzen.
Es hat einen Grund, warum sich Technologieführerinnen nicht um Kunden scheren. Und warum MAYA – Most Advanced but yet acceptable – auch innovationsbremsend sein kann. Sowie die Diskussion darüber.
Die Frage ist also: Wie viel Kommunikation ist nach außen und innen angebracht? Und wann braucht es ein “Basta” und “das wird gemacht, auch wenn’s keiner will”. Von wem darf das überhaupt kommen – wenn ja nicht mehr richtig klar ist, wer führt…
Reife ist Reflektivität
“Reife” ist ein von Systemtheoretikern offensichtlich verachteter Begriff, jedenfalls finden sich viele Schimpf- und Schande-Beiträge. Man findet es gewöhnlich unmöglich, Organisationen oder Menschen nach Reife einzuschätzen. Und doch halte ich es für wichtig, auf die kommunikative Reife einer Gruppe zu schauen. Wie kann diese mit Widersprüchen umgehen? Wollen sie aus der anderen Meinung lernen? Oder gibt es nur richtig/falsch oder besser/als?
Wer führt, muss bisherige Entscheidungen öfter über Bord werfen, vielleicht sogar ständig. Ideologische Überzeugungen sind da durchaus hinderlich. Es ist sinnvoll, private Überzeugung vom unternehmerischen Nutzen zu trennen, andernfalls wird’s keine pragmatischen Wege geben.
Ideologie mag gut funktionieren, wenn der Markt ruhig ist, nicht aber bei Wellen und im Sturm. Wenn viele denken, alle würden irgendwie führen, sickern ideologische Prägungen ein. Es folgen Glaubenskämpfe, zum Beispiel darüber, ob es Führungskräfte überhaupt braucht. Auch Führungskräfte, die Glaubenskämpfe über das Nicht-Entscheiden führen.
Natürlich ist alles immer nur im Kontext zu verstehen. Aber es gibt auch individuelle Faktoren. Krankenhausteams haben einen ähnlichen Kontext – und dennoch ist die kommunikative Reife der dortigen Teams unterschiedlich. Dennoch können einige besser kommunizieren als andere. Gewöhnlich, weil sie an sich gearbeitet haben.
Veränderung führt mindestens vorübergehend zu Kommunikationsexplosion
Eines stimmt immer, wenn es um agiles, selbstorganisiertes Arbeiten geht. Die Veränderung hin zu mehr Teamverantwortung führt zu einer mindestens vorübergehenden Kommunikationsexplosion. Und die muss man sich zeitlich, räumlich, finanziell und personell leisten können und wollen. Der Aufwand dafür wird so gut wie immer hoffnungslos unterschätzt. Wenn er denn überhaupt eingeplant wird.
Den Begriff Kommunikationsexplosion verdanke ich Daniel Dubbel, dessen Podcast über die Transformation der DB Systel zu einer Netzwerkorganisation ihr hier findet.
Folgende Situation zeigt die Unterschätzung von Kommunikation: Eine klassisch hierarchisch strukturierte Abteilung mit zwei Teams bekommt eine neue Führungskraft. Diese ist ausgewiesener Fan von Selbstorganisation. Vorher haben die Mitarbeiter, Spezialisten aus IT und Controlling, sich die Arbeit zuteilen lassen. Sogar ausgehende Briefe an wichtige Empfänger wurden kontrolliert. Jetzt heißt es: “Macht mal”, ihr seid doch Spezialisten. Die totale Verunsicherung ist die Folge. Jetzt wäre sehr viel Kommunikation nötig, jedoch hat die Führungskraft leider nicht die Empathie (oder doch Reife?) zu verstehen, was da los ist…
Führung ist ein wichtiges Strukturelement
Alternative Führungs-Strukturen aufzubauen, kostet Zeit, Geld und Beratertage. Rollenkonzepte rütteln an der Identität. Sie müssen reflektiert werden. Erst recht gilt das für verteilte Führung. Und dann die Meetings! Damit diese effizient sind, braucht es Übung. Arbeitsmethoden: Damit diese wirklich verstanden sind, sind viele Schleifen und viel Feedback nötig
Wer diese Zeit nicht hat, weil das Tagesgeschäft Vorrang hat, sollte die Finger von aufwendigen Umstrukturierungen lassen. Die Alarmglocken sollten bei Beratern schrillen, wenn neue Strukturen einfach nur obendrauf kommen – aber nichts dafür wegfällt. Aber auch wenn es konsequent gemacht wird, hat es Folgen…
Jedes Führungsvakuum erzeugt Chaos, das man sich leisten können muss. Svenja Hofert
Besonders Eingriffe in die Aufbauorganisation sind heikle Operationen am offenen Herzen. “Spotify”ist kein SAP-Rollout. Stellt euch ein Kloster mit tragenden Säulen vor. Wenn die wegbrechen, bricht auch der Rest zusammen. Jedes Führungsvakuum erzeugt also Chaos, das man sich leisten können muss.
Bei all dem bleibt die Frage, worum es eigentlich geht und ob das, worum es geht, nicht schneller anders erreicht werden kann. Mit weniger Kommunikation zum Beispiel und mehr Führungs-Entscheidungen.
Es braucht Bewusstsein für zwangsläufige Destabilisierung
Jede Veränderung, die formale Führung kappt, erzeugt eine neue Notwendigkeit: Das Andere, Alternative neu zu lernen. Dabei müssen vier Stufen das Lernens durchlaufen werden. Dieser Prozess hat eine psychologische Komponente: Wer lernt, dass er neu lernen muss, muss sich von einem Stück bisheriger Identität verabschieden. Das destabilisiert, mindestens vorübergehend.
Resiliente Menschen stecken das weg, weniger resiliente geraten in bisweilen heftige Krisen. Systemtheoretiker würden sagen, das sei nicht Sache der Organisation. Aber was ist mit der Fürsorgepflicht, die gesetzlich verankert ist? Kann man Menschen wirklich damit allein lassen? Ich finde nein, aber auch fürs Auffangen braucht es wieder Ressourcen.
Ein Versuch, das einmal am Beispiel „Agile Rollen“ aufzuzeigen:
- Unbewusste Inkompetenz. Egon Müller ist neuerdings Agile Master und muss diese neue Rolle ausfüllen. Wie, das weiß er nicht, aber auch nicht, dass er das nicht weiß. Jetzt braucht er gutes Feedback. Damit kann er erst mal nicht gut umgehen.
- Bewusste Inkompetenz: Prost, Mahlzeit, nun ist unser Egon im Bewusstsein angekommen, dass er keine Ahnung hat, wie’s geht. Er kann z.B. weder Feedback geben noch nehmen. Das bedeutet was für seine Identität – die musst sich neu formen. Er will das wirklich, aber braucht viel Zeit dafür.
- Unbewusste Kompetenz: Jetzt gelingt Egon immer mehr. Aber er hat immer noch Selbstzweifel.
- Bewusste Kompetenz: Nach drei Jahren ist Egon hier angekommen, blickt auf eine intensive Zeit zurück. Er hat viel reflektiert und weiß, dass die Reise nicht zu Ende ist. Geklappt hat das alles vor allem, weil er eine gute Begleitung hatte.
Vergessen wir nicht: Jede Lösung erzeugt neue Probleme. Welche das sind, kann man bis zu einem gewissen Grad vordenken. Aber Gruppen sind emergent, was genau in ihnen entsteht – keiner weiß es. Eine Überforderung durch ungewohnte, aufwendige Kommunikation kann die einen lahmlegen – und bei anderen Energien freisetzen.
Moralische Grundsatzdiskussionen kosten Zeit – und sind unlösbar
Ein fluides Netzwerk ist schnell mal auf dem Bierdeckel gemalt. Aber was so ein Umbau für das Unternehmen bedeutet, malt sich keiner aus. Der damit verbundene Konzeptwechsel kann eine kommunikative Überforderung bedeuten.
Und so hat manch eine agile Transformation einen Nebeneffekt. Sie setzt Grundsatzdiskussionen über Hierarchie oder Gleichheit frei, die eine heikle, weil moralische Dimension bekommen. Am Ende ist es eine ähnliche Diskussion wie in der Politik, und ähnlich emotional. Moral jedoch ist höchst explosiv, denn nichts spaltet mehr. Dann doch besser wieder: An die Arbeit, Leute.
Der Beitrag gelesen und als Podcast findet sich in meinem Newsletter-Text hier.
Beitragsfoto: Thomas Soellner-istock.com
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.