Am 20.12.1954 sollte der Weltuntergang stattfinden. Das hatten fliegende Untertassen der Amerikanerin Dorothy Martin verkündet, die sich als Medium sah.

Um 24 Uhr jenes Tages war immer noch nichts geschehen. Einer der gläubigen Anhänger von Martins bemerkte, dass es ja erst fünf vor 12 sei. Um 24 Uhr nahm Mrs. Martin dann Kontakt zu den Außerirdischen auf. Diese teilten dem Medium mit, dass sie sich verspäten würden. Es passierte… nichts. Vier Stunden später informierten die Außerirdischen Mrs. Martin, dass sie die Erde doch verschonen wollten. Der Sozialpsychologe Leon Festinger hatte Beobachter eingeschleust, die von diesem Ereignis berichteten. Nachzulesen ist das in einem 2018 aufgelegten Buch “When Prophecy fails” (weitere klassische sozialpsychologische Experimente hier im Teamworks-Blog).

Seitdem beschäftigte sich die Sozialpsychologie immer wieder mit der Frage: Wie können derart feste Überzeugungen in Gruppen entstehen? Überzeugungen, die trotz überzeugendster Gegenbeweise bestehen bleiben. Das mentale Modell der epistemisch rationalen und irrationalen Überzeugungen kann uns helfen, das näher zu betrachten.

Die Mensch-Überzeugung-Fusion

Dorothy Martin steckt in uns allen. Menschen lassen ihre Überzeugungen nicht los. Es besteht eine Mensch-Überzeugungsfusion, bei der die zugehörige Gruppe eine wichtige Rolle spielt. Sie festigt die Überzeugung, gibt ihr eine Heimat.

Zeigt man Überzeugten Fakten, so äußern sie Zweifel an den Quellen. Sie verschließen sich Gegenargumenten, meiden und diffamieren Gruppen, die andere Überzeugungen haben. Das ist das, was wir tagtäglich in Unternehmen, der Gesellschaft und der Politik erleben. Aufgrund von irrationalen Überzeugungen werden Kriege geführt.

Überzeugung im Kleid der Wahrheit

Die Überzeugung kommt immer in Form einer absoluten Wahrheit daher. Ob Öko-Sozialismus die Welt rettet oder New Work: Der Inhalt ist sekundär. Es ist die Art, wie eine Überzeugung vertreten wird: Mit aller Kraft – jedoch nicht Überzeugungskraft, sondern… Überzeugtheit.

Das Festhängen in Gedankengebäuden betrifft alle

Wenn sich Argumente und Beweise in Luft auflösen, halten Überzeugte weiter daran fest. Wider jeder Rationalität. Sogar manch Systemtheoretiker, wiewohl “eigentlich” konstruktivistisch orientiert, hängt so fest in seinen Gedankengebäuden, dass er sich nicht mehr von ihnen lösen kann. Oder Holakratie-Vertreter: Es muss wirken, was wirken muss.

Die Überzeugungen sind Teil der Identität geworden. Sie gehören zu uns, wie Hand und Fuß. Loslösung ist zugleich auch Identitätsverlust. Und in der Psychologie ist jede Veränderung Identitätsänderung.

Überzeugungen sind wie Hand und Fuß

Weil alle an ihren Überzeugungen festhalten, ist Veränderung so schwer und langsam. Die rationale Einsicht, an die manche glauben, wird es nicht geben. Nehmen wir die Energiewende. Teile der Politik verbreiten die Überzeugung, dass diese mit erneuerbaren Energien zu bewältigen sei. Kritiker argumentieren, dies könnte ein Traum sein. Sie führen an, dass Studien, die die Möglichkeit einer vollständigen Kompensation belegen, Auftragsstudien und angreifbar seien. In Wahrheit also Opium für das Volk?

Faktenlose Überzeugtheit als Opium für das Volk?

Wie kommen wir zu Erkenntnissen?

Die Epistemologie ist die Lehre davon, wie man zu Erkenntnissen kommt. Existiert ein konsistentes Gedankengebäude, argumentativ untermauert – oder nicht? Das wäre epistemisch rational. Gibt es Evidenz? In der epistemischen Irrationalität gibt es diese Konsistenz dagegen nicht. Es fehlt die Beweisführung, auch die innere. Man sagt “Das ist eben so.” Oder: “Ich weiß es einfach.”

Dorothy Martins Gedankengebäude war, hört man, in sich schlüssig. Und es fiel den Anhängern selbst dann nicht als Kartenhaus zusammen, als der Beweis ausblieb. Die Grenze zwischen epistemischer Rationalität und Irrationalität ist nicht fest gezogen. Und was als Evidenz gelten darf, keineswegs eindeutig.

Dürftige Beweisführung hat System

Die Dürftigkeit von Beweisführung hat überall da Prinzip, wo wir es mit Komplexität zu tun haben. Da sind wir „komplexitätsreduzierend“ unterwegs. Frei nach der epistemisch eher irrationalen Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir meine Welt wie sie mir gefällt“.

Für die Nützlichkeit von agilen Coaches gibt es keine valide Evidenz. Denn schon “Agiler Coach” ist nicht operationalisierbar. Eine bessere Arbeitswelt, Stichwort New Work, ebensowenig. Jedenfalls nichts, was über ein bisschen Employer Branding-Effekt hinausgeht. In diesem Sinn wäre all das epistemisch irrational.

Manche Menschen sagen Dinge wie: „Ich weiß aber einfach, dass eine bessere Arbeitswelt uns alle zufrieden macht.“ Das versetzt mich immer in Staunen. Wie kann man so etwas wissen? Zufriedenheit ist höchst subjektiv. Das ist vielleicht aber nur meine epistemische Rationalität, denke ich dann. Oder Irrationalität?

Vermutete Zusammenhänge

Ich konnte keine tragbaren Belege für einen Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Produktivität finden. Auch nicht zwischen Zufriedenheit und wirtschaftlichem Erfolg. Das „neue Narrativ“ aber lautet, dass es diesen Zusammenhang gibt, ja sogar zwischen Öko-Investment und Erfolg wird einer gezogen. Man redet Argumente herbei, die man hören will. Ich finde, in einem offenen Diskurs hilft das nicht.

Wir müssen erkennen: Die Grenzen sind sehr oft weit und schwammig. Was wir als rational werten ist im Ende irrationaler Zeitgeist. Der ändert sich: An UFOs außerirdischer Herkunft zu glauben, ist beispielsweise wissenschaftlicher Konsens geworden.

Leute, die Überzeugungen mit Überzeugtheit vertreten, gelten als stark. Aus einer anderen Perspektive sind sie wahnsinnig: eben weil sie keinen Zweifel zulassen, auch ohne Evidenz. Auch Wahnvorstellungen sind irrationale Überzeugungen, die ausgesprochen kompetent begründet werden können.

Wir müssen folglich feststellen, dass viele so genannte Vordenkerinnen, wenn nicht alle, nah an Überzeugtheit, gar nah an Wahn agieren. Ihre Gedankengänge sind epistemisch irrational. Es gibt keine Beweise. Ja, der Beweis ist mitunter sogar, dass es keinen Beweis gibt. Epistemisch irrationale Argumentation schert sich nicht um Schlüssigkeit.

Der Beweis ist, dass es keinen gibt

Schizophrenie und Wahn haben mich schon immer fasziniert. Eben weil ich immer schon vermutet habe, dass Wahnsinn ein künstliches Konstrukt ist. Gustl Mollath glaubte, dass seine Frau in Schwarzgeldgeschäft der Uncredit involviert war. Er landete in Gefängnis und Psychiatrie – war aber unschuldig.

Heute weiß man: Schizophrenie ist auf nichts eindeutig zurückzuführen, weder auf Umwelt noch Genetik. Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, haben oft konsistente Überzeugungen. Sie sind also epistemisch rational. Falls ihr „A beautiful mind“ gesehen habt, wisst ihr, was ich meine. Die Welt IST real, wenn man einen Wahn hat. Und die Grenzen SIND nicht da, wie der Fall Mollath zeigt.

Menschen, die als schizophren bezeichnet werden, sind von etwas überzeugt, was den ANDEREN als nicht rational gilt. Der Psychiater Philipp Sterzer verfolgt in seinem sehr lesenswerten Buch “Die Illusion der Vernunft” eine steile These: Es könnte sein, dass es für unsere Vorfahren ein Selektionsvorteil war, verrückt zu sein. Als Schamane braucht man irrationale Überzeugungen – ebenso wie heute als Management-Guru. Sterzer argumentiert, dass ansonsten die Schizophrenie hätte ausgerottet werden müssen, da sie so häufig sei.

Irrationale Überzeugungen machen erfolgreich

Wenn Rationalität ein Kontinuum ist, weiß niemand, wo genau der Übergang in die Irrationalität ist. Ist die russische Mafia wirklich hinter dem Datenjournalisten her? Ist die Corona-Laborthese eine Verschwörung – oder eben deren Leugnung? Zahlt agiles Coaching auf Agilität ein? Was nicht widerlegt werden kann, müssen wir im Grenzbereich wähnen. Und dieser sollte Raum für offenen Diskurs sein.

Stellen wir uns einen breiten Übergangsbereich vor. Auf der einen Seite sind rationale Überzeugungen, auf der anderen irrationale. Um gute Entscheidungen zu treffen müssen wir die Grenze immer wieder neu aushandeln, auch mit uns selbst.

Denn es liegt eine große Gefahr in der dauerhaft als Rationalität verkleideten Irrationalität. Wenn Kartenhäuser zusammenbrechen, dann hat das nämlich Folgen für viele Menschen.

Psychologisch betrachtet, brauchen Menschen ihre Identität. Sie müssen sich selbst als konsistent wahrnehmen. Deshalb fällt es so unglaublich schwer, Überzeugungen aufzugeben. Es bedeutet, sich und vor allem seiner In-Gruppe einzugestehen, dass wir uns im Nirwana irrationaler Argumentation verloren haben.

Jede Veränderung tangiert Identität. Gebe ich eine Überzeugung auf, ist das wie mit dem Rauchen aufhören. Ich muss sagen „ich war ein Raucher“. Ich muss aber auch sagen „ich habe geglaubt, dass Holakratie eine Lösung ist“ – mit weitreichenderen Folgen für die Beziehungen und sogar ökonomischen Risiken. Vertrauensverlust beispielsweise. Unsere Kultur lässt kaum zu, dass wir offen über Überzeugungen sprechen, die im Grenzbereich die Seiten wechseln.

Die Psychologie hat ein mildes Mittel für Überzeugungswechsel parat: Wir können vergessen, an was wir geglaubt haben. Dann ist es nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.

Aber es gilt auch: Verschleppte Weichenstellungen aufgrund irrationaler Überzeugungen können dramatische Auswirkungen für viele Menschen haben.

Ein paar Fragen zum Abschluss:

  • Mit wie vielen Überzeugungen bist die verbunden, die ein „man muss“ enthalten?
  • Woran erkennst du, was wahr ist?
  • Was würdest du als Gegenbeweis akzeptieren?
  • Wie gehst du mit Themen um, für die Wahrheit nicht gefunden werden kann?
  • Angenommen, es gäbe eine Studie, die den absoluten Unsinn deiner bisherigen Überzeugungen belegt, wie sehr wärst du bereit, dich erschüttern zu lassen?

Dieser erweiterte Beitrag erschien zuerst in meinem Newsletter Weiter denken und ist auch als Podcast verfügbar. Du kannst ihr hier anhören. Dazu gibt es noch 5 Tipps.

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Alexweiser – Photocase

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

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