Kategorien

Unternehmen in der Klemme: Demographische Katastrophen und nachlassende Bindungen

Veröffentlicht: 18. Dezember 2022Kategorien: Allgemein

Die Bindung in und zu den Unternehmen erodiert. Und der Verlust ist nicht zu kompensieren. So sprechen manche nicht mehr nur vom demografischen Wandel, sondern von der demografischen Katastrophe. Es klingt nicht nur bedrohlich, das ist es auch.
Bisherige Klebemechanismen versagen. Die alten Bürobauten halten sich zwar noch, aber sie bleiben leer. Durch viele verschwendete Quadratmeter bin ich in den letzten Wochen gegangen. Da war jede Menge Leere, hier ein Mensch, da ein Hund.

Schaute ich aus dem Fenster unseres Büros in der Ferdinandstraße sah ich einsame Tannenbäume und wenige Laptops. Merke: In der Innenstadt rund um den Jungfernstieg gibt es keine Wohnungen, es sind alles Büros.

Wo findet derzeit die Bindung statt?

Zeigt ein Weihnachtsmarkt nicht viel mehr, was Menschen anzieht als ein Büro? Es sind die Menschen, man trifft sich. Es verbindet der Glühwein. Man arbeitet wegen der Kollegen, nicht weil die Organisation so toll ist.

Unternehmen sind darauf ausgelegt, Ersatzfamilien zu schaffen. Mit allen Konsequenzen. Sie dienen der Wiederholung kindlicher Traumata, aber auch der Nachreifung. Hier könnte Hans lernen, Konflikte produktiv zu bewältigen, die Hänschen immer vermieden hat. Oder sich als Arbeiterkind beweisen und Neurosen abbauen. Vielleicht sogar den Muttikomplex ablegen.

Unternehmen bilden familiäre Strukturen nach.

Der Chef als Vaterersatz, die Kollegen als Kopie der heimischen Verhältnisse oder deren bessere Form. Unternehmen kompensieren und ermöglichen auch die Neudeutung von sich selbst. „Hier, endlich, kann ich zeigen, wer ich bin.“
Viele Menschen haben Nähe am Arbeitsplatz gesucht. Dort war die Ersatzfamilie. Eine Näheorientierte Kultur prägte sowohl kleine als große Firmen.  Wenn meine Mitarbeiterin mir sagt „ich lass euch doch jetzt nicht hängen“, rührt mich das sehr. Ich weiß aber, dass das genau die Form der Bindung ist, die gerade erodiert. Je weiter man entfernt ist, desto weniger wird man diese Sätze sagen.

Am Modell erklärt

Ich will das mit einem Modell verdeutlichen, dem Riemann-Thomann-Modell. Dieses gruppendynamische Modell arbeitet mit Gruppenfeldern. Das sind Positionen, die das eine Gruppenmitglied zum anderen aufgrund bestimmter Verhaltenstendenzen einnimmt. Meine Verhaltenstendenz ist abwechslungsorientiert, damit stehe ich Kollege Thorsten, der dauerorientiert handelt, direkt gegenüber. Weshalb es im Zweifel er ist, der regelmäßige Termine macht. Während ich aus einer Laune handele.

So entstehen vier Grundtypen der Gruppe. Berater kennen es als „Gruppenfeld“:

  • Der Grundtyp der Menschschaft: Hier sind die  Gruppenmitglieder orientiert an Nähe und  Dauer. Nähe heißt, man ist sich nah und persönlich zugewandt. Dauer bedeutet, man liebt Regeln und Ordnung. In diesem Klima wächst alles gut, was sich wiederholt und überschaubar ist.
  • Der Grundtyp der Truppe: Die Mehrzahl zieht es zu Distanz und Dauer? Dann habt ihr es mit einem „Truppe“ zu tun. Hier ist oder wird alles geregelt. Allerdings spricht man wenig oder gar nicht über Privates. Der Stil ist sachlich und förmlich.
  • Der Grundtyp des Stammtischs: Die Gruppenmitglieder ballen sich bei Nähe und Wechsel? Eberhard Stahl nennt diesen Typ “Team”. Wir finden, dass alle Grundtypen Teams sein können, sofern sie gemeinsame Ziele verfolgen. Beim Stammtisch ist man nah, aber zugleich offen zueinander. Die „Metaebene“ zieht ein, wenn alle über Politik und Sport reden – und natürlich genau wissen, wie es besser geht.
  • Der Grundtyp des Haufens: Die Mehrzahl gruppiert sich rund um Distanz und Wechsel? Dann habt ihr es mit einem „Haufen“ zu tun. Hier steht die Freiheit des Individuums im Vordergrund. Regeln bringt höchstwahrscheinlich der ein, der im Verhältnis zu den anderen nicht so extreme Ausprägungen hat… Einen gibt es immer. Schon weil es auch immer um Abgrenzung geht.

Eins muss man bei diesem Modell unbedingt bedenken. Es ist ein gruppendynamisches Modell, kein Persönlichkeitstest. Es beschreibt Tendenzen, die sich nur im jeweiligen Kontext zeigen. Es hat mit der eigenen Persönlichkeit wenig zu tun.
Nur extreme Persönlichkeitseigenschaften werden sich dauerhaft und in unterschiedlichen Gruppenfeldern niederschlagen. So wird eine sehr offene und neugierige Person überall eher eine Wechselorientierung mitbringen. Ebenso wie ein sehr gewissenhafter Mensch in unterschiedlichen Gruppen nach Struktur und Ordnung strebt.
Das heißt, auch die Ausprägungen der anderen bestimmen die eigenen.

Die entwickeln sich immer vom Verhältnis zu meiner Lebenssituation und Position in einem sozialen Gefüge. Bin ich mit einem extremen Wechseltyp zusammen, merke ich, dass ich plötzlich nach Struktur suche. Das ist das Charmante an diesem Modell. Man kann damit vieles erklären ohne es festzuschreiben.

Weg mit dem Heimathafen?

Zurück zum Thema. Bindung erodiert und damit auch der Heimathafen vieler Menschen. Sie haben sich, so steht zu vermuten, Alternativen gesucht. Während der Coronapandemie haben viele gemerkt, dass sie ihre Nähe-Bedürfnisse auch anders stillen können. Das gilt auch für die Distanz-Orientierten. Diese haben auch ein Bedürfnis nach Nähe, suchen es aber aus dem Abstand heraus. Es ist moderater, dosierter, auf den kleineren Kreis bezogen. Allerdings gilt auch: Man gewöhnt sich an Abstand. Irgendwann merkt man nicht mal mehr, dass man etwas vermisst. Und tut es auch nicht – solange man die anderen nicht sieht.

Klebstoff weg

Wir haben während der Pandemie gelernt, dass das Wichtigste im Leben nicht die Firma ist. Je weiter die anderen entfernt sind, desto eher gilt das. Damit ist der wichtigste Klebstoff für große Firmen und Verwaltungen verloren gegangen, die typischerweise Nähe-Dauer-Typen anziehen (oder ausbilden).

Natürlich greift ein einzelner Erklärungsansatz hier viel zu kurz. Es spielen auch veränderte Wertvorstellungen eine Rolle. Man sieht beispielsweise, dass die Leute auch bei weniger Geld nicht auf Reisen verzichten. Die nächste Generation wird weniger für die Erben sparen, weshalb sie auch mehr Zeit zum Geldausgeben haben.

Die jetzigen Erben auf der anderen Seite können sich leichter aus dem Arbeitsleben zurückziehen. Immer mehr werden das tun, die Zahl derer steigt, die wenig bis gar nicht arbeiten. Aber auch keine staatliche Unterstützung brauchen.
Die Firmen verlieren damit Leute,

a.) die arbeiten müssen, weil sie Geld brauchen und

b.) für ihre Kinder arbeiten, damit die es mal besser haben.

Die Gegenwartsorientierung durch die Achtsamkeitswelle könnte auch eine Rolle spielen. Wir lernen mindful auf das Jetzt zu blicken – darüber vergisst man leichter, was man noch alles tun könnte.

Psychische Erkrankungen nehmen dramatisch zu

Gleichwohl haben wir immer mehr Probleme mit psychischen Erkrankungen. Und Einsamkeit spielt hier eine zentrale Rolle. Die WHO verzeichnet im Juni 2022 eine erschreckend starke Zunahme psychischer Erkrankungen. Wir haben gelernt „unnötige Kontakte zu reduzieren“. Um rund die Hälfte brach die Zahl der durchschnittlichen Kontakte während Corona ein. Wie es jetzt aussieht, ob das aufgeholt werden konnte, konnte ich nicht herausfinden.

Vielleicht wäre die Gemütlichkeit im familiären Betrieb psychisch viel gesünder.  Und vielleicht unterschätzen wir den Effekt der Gewöhnung. Man gewöhnt sich eben auch an Distanz. Wie umgekehrt.

Der Beitrag ist angelehnt an den Newslettertext 33.

Foto: Photocase / Kong

Beitrag teilen:

Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

Einen Kommentar verfassen