Was hat ein Nasenring mit einem Bossanzug zu tun? Für die Antwort auf diese Frage bitte ich um etwas Geduld. Jetzt will ich Sie damit erst einmal in diesen Text hereinziehen und ein wenig Dramaturgie aufbauen. Es geht in meiner Kolumne dieses Mal um die neue Arbeitsgesellschaft, die gern mit dem Etikett „New Work“ verknüpft wird. Dieses Etikett erzeugt Erwartungen: Wenn wir nur endlich gut zueinander wären! Hierarchiefrei, mindestens jedoch hierarchiearm kommunizieren würden! Den Mensch in den Mittelpunkt stellten. Endlich sehen würden, dass wir Schöpfer der Arbeitswelt sind und als solcher Dinge SELBST möglich oder unmöglich machen… Das New Work-Konzept verspricht viel, vor allem scheint es vieles humaner zu machen. Doch vielfach ist es auch mehr Schein als Sein. Winfried Felser hat unter #NewWork17 zur Blogparade aufgerufen und dies ist mein Beitrag dazu.

Was ist New Work? Bevor ich loslege eine Definition: Unter New Work verstehe ich die Bündelung verschiedener Konzepte, die dem Wandel der Arbeitsgesellschaft gerecht werden sollen. Agiles Arbeiten und agiles Führen reihen sich in diesen New-Work-Kontext  ein. Es geht vielmehr um nichts mehr oder weniger als die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Empirische Belege für einen „Effekt“ (auf Arbeitsleistung, Zufriedenheit, Wirtschaftlichkeit etc.) gibt es nicht. So bleibt eine mehr philosophische Diskussion. Und das ist auch der Hintergrund von New Work: Fritjof Bergmann, der den Begriff prägte, wollte Menschen von der Lohnarbeit befreien. Arbeit soll sinnvoll sein, keine ökonomische Notwendigkeit. Somit schlägt New Work auch einen Bogen zu Bewegungen wie der des Grundeinkommens.

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Dabei sehe ich vor allem folgende Annahmen, die von blinden Flecken flankiert sind:

1. Annahme: New Work ist eine Haltung. Blinder Fleck: New Work wird als Weltanschauung gelebt

New Work erscheint mir heute allerdings vielfach als ein der philosophischen Grundhaltung entrissenes Konglomerat aus teils widersprüchlichen Weltanschauungen.

Von der Weltanschauung ist es nicht weit zur Ideologie. Ideologie führt immer zur Frontenbildung. Die eine Front erzeugt die andere. Ich sehe das beispielsweise im Umgang mit grundlegenden Fragen. So werden Annahmen als „wahr“ herangezogen, die niemals als Wahrheitskonstruktion gedacht waren, wie die (nicht empirisch belegte) Theorie X/Y von Douglas McGregor. Die rückt in Richtung Weltanschauung, wenn die Y-Haltung als allgemeingültig verstanden wird. Dialektisches Denken, ein ebenfalls aus der Philosophie kommender Ansatz, ist dann nicht integriert, es bleibt schwarzweiß. Oder auch ein Cargo-Kult, eine mit Pseudoblegen unterstrichene Annahme.

Tipp: Wenn Ihnen jemand erzählen will, etwas sei so und nicht anders (ohne ein dahinterliegendes, nachvollziehbares Bewertungsprinzip nennen und dies in irgendeiner Weise erkenntnistheoretisch begründen zu können), bewegt er sich im Reich der Weltanschauung. Dort lassen sich keine über den Einzelfall hinausgehenden praktikablen Lösungen finden. Und selbst ob sie für den Einzelfall passend sind, wäre zu hinterfragen.

2. Annahme: New Work räumt auf mit Statusdenken. Blinder Fleck: Auch Fahrräder und Nasenringe sind eine Form von Statusdenken

Was hat ein Nasenring mit einem Bossanzug zu tun? Worin gleichen sich ein freakiger Nerd und ein eloquenter Manager? Ganz einfach: Beide tragen ihre Artefakte durch die Gegend, beide leben IHRE Unternehmenswerte. Doch ihr Denken ist strukturell oft gleich. Ob Fahrrad oder Audi-6er: Losgelöst vom Inhalt, können beide die Lebensform des jeweils anderen als „falsch“ bewerten. Das heißt, sie denken in Schwarz-Weiß-Kategorien.

Unternehmen, die sich selbst als New Work-Unternehmen sehen, erkennen das oft nicht. Sie sehen ihre eigenen Artefakte als „besser“ im Sinne von zeitgemäßer, fortschrittlicher an. Sie bewerten die Artefakte von anderen als „schlechter“ gemeint als nicht zeitgemüß und veraltet. Nun ist solches So-oder-so-Denken möglicherweise fürs Recruiting sinnvoll, da es auch Wettbewerb um Fachkräfte erzeugt (New Work ist besser!), aber nicht wirklich humanistisch. Es lässt zumindest langfristig all jene auf der Strecke, die sich nicht in das jeweils gewünschte Raster einpassen lassen wollen. An- und Einpassung ist alldieweil überall mehr als erwünscht. Im Nasenring-Umfeld darf jeder sein wie er ist. Man redet über alles. ABER: Es ist nicht zulässig einen Boss-Anzug zu tragen. Es ist auch nicht zulässig, nicht über alles reden zu wollen. Oder zumindest nicht wirklich…

So kann es sein, dass in dem Nasenring-Unternehmen Menschen im „All Hands“ (einer Zusammenkunft aller Mitarbeiter) alle ihr Herz ausschütten, während im traditionellen Meeting genau das vermieden wird. Es läuft auf das Gleiche heraus. Ich sehe in meiner Beratung eine unglaubliche Spannbreite an Arbeits- und Lebensformen. Doch diese Unterschiedlichkeit verwischt sich, wenn man unter die Oberfläche schaut.

Tipp: Wer sich wirklich ernsthaft für New Work interessiert, wer sein Unternehmen ehrlich verändern will, sich dabei auch für die Zukunft wappnen möchte, sollte sich Artefakte – also manifestierte Werte –  hinsichtlich ihrer Tendenz zur Ab- und vor allem Ausgrenzung einmal genauer anschauen.

3. Annahme: New Work macht Menschen zufrieden. Blinder Fleck: Auch auf dem Ponyhof gibt es Konflikte

Ponyhof-Skandal: Wir haben uns gestritten! Wir haben dem anderen nicht ehrlich zugehört! Wir haben gelästert. Ich erlebe Unternehmen, vor allem „idealistisch“ motivierte Unternehmungen, in denen solches Verhalten verpönt ist. Die Konfliktbereitschaft ist meiner Erfahrung gerade da besonders niedrig, wo es ein homogenes Mitarbeiterinteresse gibt oder zu geben scheint. Hier entsteht eine Art Wertekonformität. Konflikte schaukeln sich dann leicht an Personen hoch, die sich nicht wertekonform verhalten, die etwa arbeiten, um Geld zu verdienen (wie profan…).

New Work räumt keine Konflikte aus, sondern es ist sogar geeignet diese zu verschärfen. Das ist ähnlich wie im sozialen Bereich. Je idealistischer, je intrinsischer motiviert, desto gutmenschiger geht es zu. Gutmenschen hassen es, sich zu streiten. Oder vielmehr: Sie tragen ihren Streit lieber unterschwellig aus.

Tipp: Ein guter Umgang mit Konflikten setzt persönliche Reife voraus. Die ist in New-Work-Unternehmen im Schnitt der Mitarbeiter und Führungskräfte genauso wenig oder stark ausgeprägt wie in konservativen Firmen. Die Arbeit am „Mindset“ ist also genauso nötig wie im Command- and Control-Umfeld. Die Richtung heißt dabei spätestens wenn es in eine Wachstumsphase geht (in dieser kann eine gewisse Einseitigkeit von Vorteil sein): Öffnen in alle Richtungen, Prinzipien verankern, die sich aus nicht ausgrenzenden Werten ableiten.

4. Annahme: Basisdemokratie ist gut. Blinder Fleck: Reine Basisdemokratie macht handlungsunfähig

Oft fließt in die New-Work-Weltanschauung ein basisdemokratischer Gedanke. Jeder darf mitreden, alle haben etwas zu sagen. Ich erlebe Firmen, in denen das die Konflikte nur weiter befeuert. Im Grunde wissen die Führungskräfte, dass am Ende einer entscheiden muss, doch wird diese Tatsache nicht selten unter den Teppich gekehrt. Man will gleich sein und versteckt das Ungleiche. „Ich kann doch nicht….“, so fangen oft Sätze von Menschen aus diesem Umfeld an. Sie glauben beispielsweise, sie könnten nicht durchgreifen, weil das ja altes Command & Order sei. Unsinn. Wohin eine ausufernde Diskussionskultur führt, sieht, wer in die Politik schaut, zu den ersten Jahre der Grünen, aber auch der Piraten.

Tipp: Führung heißt auch, dass ab und zu einer sagt, wo es langgeht. Allein in welcher Form das geschieht, muss transparent sein. Das ist eine Herausforderung und klar ein work in progress – wie alles.

5. Annahme: Führung 4.0 ist etwas Anderes als Führung 1.0. Blinder Fleck: Menschen brauchen Identifikation mit einer starken Persönlichkeit

;Macht wird im New-Work-Umfeld gern negativ interpretiert. Auch die Mächtigen wollen nicht mächtig sein. Macht wird geradezu abgespalten – böses Alpha! Die Annahme: Wenn jeder intrinsisch motiviert ist, braucht er niemand mehr, der ihn führt. Wenn ein Team sich selbst organisiert, braucht es keine Identifikationsfigur(en) mehr. Das alles stimmt so nicht.

Gern begleite ich Führungskräfte in ihre natürliche Umgebung. Ich sehe mir als stille Beobachterin das Unternehmen an. Das gibt oft mehr Aufschluss als jedes Coaching oder ist eine gute Vorbereitung dafür. Die Führung spiegelt sich auf allen Ebenen. Das ist wie in einer großen Familie. Auch fehlende Führung zeigt sich so. Sie führt bis hin zur emotionalen Verwahrlosung. Und hier machen sich viele etwas vor, die denken, Führung wäre entpersonalisierbar, etwa in Rollenkonzepten wie der Holakratie.  Auch die Annahme Führung 4.0 wäre “ganz anders” als Führung 1.0 ist falsch, wenn man versteht, dass es sehr viele unterschiedliche Arten von Führung gibt, jedoch mindestens eine die auch Sinngebung, Identifikationsstiftung, Inspiration beinhaltet.

Mitarbeiter brauchen an der Spitze Führungskräfte, die an etwas glauben, das bedeutungsvoll und sinnvoll ist. Die inspirierend sind, väterlich, mütterlich, Vertrauen spendend.  Das sind in der Führung 1.0 genau wie in der Führung 4.0 Menschen, die ihr Machtmotiv positiv interpretieren, leben und Menschen lieben. Je mehr ich sehe, desto klarer wird mir, dass man diesen Faktor einfach nicht unterschätzen darf.

Tipp: Ein Unternehmen bildet immer auch Familienstrukturen nach. Wir leiden unter schlechten Eltern genauso wie unter schlechten Chefs. Führung sollte auch als emotiomal richtungsgebend verstanden werden. Mitarbeiter sind ein Spiegel ihrer Führungskultur. Führung kann Motivation und mit ihr auch Energien freisetzen oder bremsen. Sie kann dafür sorgen, dass Menschen respektvoll miteinander umgehen und so den Boden für gute Zusammenarbeit bereiten. Darauf wir im Moment viel zu wenig geachtet, da der Blick so auf den Teamgedanken ausgerichtet ist (was gut ist, aber eben nicht alles).

BITTE: Für unsere Umfrage zur Wertekkultur brauchen wir noch ca. 80 Teilnehmer, um auf 300 zu kommen. Machen Sie mit?

Dazu passt:

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

8 Kommentare

  1. Andreas Kaufmann 23. April 2017 at 19:08 - Antworten

    Bei den Anforderungen werden sich wohl nicht viele “New Work” fähige Führungskräfte finden. Denn es klingt stark nach Ignatius von Antiochien: Man lehrt durch das was man sagt, noch mehr durch das was man tut, aber am meisten durch das was man ist … leider verstehen die meisten Lehrer das als Ansporn zur Umstellung ihrer Ernährung …

  2. Unfassbar – ein #mustread jagt das nächste. Mir gefallen realistische Ansätze des “Es gibt nicht nur schwarz oder weiß”.
    Vielen Dank, liebe Svenja Hofert!

  3. Ralf Metz 27. April 2017 at 11:22 - Antworten

    Liebe Svenja

    ein erneut richtig toller Artikel, super auf den Punkt gebracht und zusammengefasst. Sehr schön – Must read.

    “Auch auf dem Ponyhof gibt es Konflikte” – Leider geil 🙂

  4. Jan von moveyouroffice 27. April 2017 at 17:47 - Antworten

    Hallo Svenja,
    lesenswerte Kolumne! Danke für deine Darstellung.
    Wenn man sich für New Work interessiert, muss man als Unternehmen bzw. als Führungskraft zwar einerseits für die Veränderung brennen und das vorleben, andererseits auch respektieren, dass es das “alte” Arbeitsmodell weiterhin geben wird.
    Ich glaube es könnten sich mehr Führungskräfte trauen, mit den neuen Werten in Berührung zu kommen.
    Auf meinem Blog habe ich das Thema New Work http://bit.ly/2oApeu1
    ebenfalls umfassend beleuchtet. Klar sind dabei interessante neue Konzepte, aber auch einige Herausforderungen, die bewältigt werden müssen.
    Ich bin auf die nächsten Jahre gespannt. Jetzt lässt sich der Wandel der Arbeitskultur mit bestimmen.
    Viele Grüße,
    Jan

  5. Helga Florea 21. Mai 2017 at 8:43 - Antworten

    Ja, liebe Svenja, danke für das Einbingen des Basis-Punktes dialektische Sichtweise! Solange diese nicht möglich, da objektiv keine Kultur dafür, solange bleiben die imanenten Widesprüche noch am Werk, sind nicht aufgelöst und erzeugen all die umhauend klug festgestellten weißen Flecken. Die ökonomischen Rahmenbedingungen für New Work sind nicht da und so kann es nicht zum Tragen kommen. Aber angedacht ist schon die halbe Miete! Wenn wir dann ökonomisch soweit sind ist es plötzlich umsetzbar.

  6. […] Felser schon einmal, 2017. Meine Kolumne, die auch in Huffington Post erschien, hieß damals „New Work: 5 blinde Flecken in Sachen Zukunft der Arbeit“.  Jeder der Punkte stimmt immer noch, und doch sind wir heute […]

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