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Coaching ohne Handicap: Interview mit Jens Jannasch
Jens Jannasch ist zertifizierter systemischer Coach der Freien Universität Berlin. Ich habe ihn für ein Interview in meinen Blog ausgewählt, weil er etwas Ungewöhnliches tut: Seit fünf Jahren arbeitet er hauptberuflich als Jobcoach in einer der größten Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Über dieses spannende Thema hat er auch ein Buch geschrieben.
Während des Studiums habe ich als Nebenjob u.a. Menschen mit Down-Syndrom betreut. Kann man Menschen mit Behinderung coachen? Auch aus meiner Erfahrung in dieser Arbeit stelle ich mir das schwierig vor…
Doch das geht. Selbstverständlich auch abhängig von der Schwere der Behinderung. Natürlich braucht man etwas andere Herangehensweisen und mehr Zeit, um Übungen zu erklären. Aber die Wirkung ist erstaunlich – und nicht anders wie bei jedem anderen auch. Coaching öffnet neue Perspektiven und kann einen Motivationsschub auslösen.
Mit welchen Tools arbeitest du dabei?
Ich nutze zum Beispiel Tetralemma aus der Aufstellung, oft im Einzel- aber auch im Teamsetting. Dabei arbeite ich ganz viel mit Kärtchen. Ich muss mir noch genauer als in der Arbeit mit Nicht-Behinderten aufschreiben, was beim letzten Mal passiert ist und da wieder anknüpfen. Die Übungen muss ich exakt anmoderieren. Selbst geäußerte Inhalte werden von den Coachees oft vergessen. Oder ich muss sie hinterfragen, um sie selbst zu verstehen. Für manche ist es auch eine ungewohnte Situation, ihre ganz eigenen Wünsche und Interessen zu benennen. Leider auch die ihr Leben lang begleitende Aussage “das kannst Du nicht, du bist behindert” zu verlassen und ihre eigenen Interessen (wieder-)zuentdecken. Sie wissen oft ganz genau, was ihre Familie oder ihre Betreuer für einen Weg für sie vorgesehen haben. Können aber oft nicht ihre eigenen Wünsche äußern. Zum einen, da sie es wie gesagt nicht gewohnt sind, zum anderen, weil sie sich verbal teilweise nicht so konkret äußern können. Da braucht ein Setting deutlich mehr Zeit als bei einem nicht-behinderten Menschen: Mindestens 90 Minuten pro Einheit und auch eher mehr Termine als 6-7.
Ich stelle mir vor, dass man auch ganz andere Worte verwenden muss…
Auf jeden Fall, man muss es einfach und bildlich erklären und Inhalte teilweise auf sprachlich sehr niedrigem Niveau halten. Aber dann verstehen es die Coachees schon. Oder bei den Menschen mit psychischen Einschränkungen. Hier muss man manchmal auch langsamer vorgehen, um nicht zu überfordern.
Und weitere Tools? Kann man alle systemischen Klassiker einsetzen?
Manche muss man “übersetzen”. So haben auch Menschen mit Behinderung ihre Höhen und Tiefen in ihrem Lebenslauf, die man mit Ihnen besprechen kann anhand einer Kurve. Da kann ich natürlich nicht mit Skalenwerten von -10 bis +10, arbeiten, wenn jemand gar keine Zahlen lesen kann. Ich übersetze die Werte dann, indem ich z.B. Smileys verwende.
Bei meinen Coachees ohne Behinderung erkläre ich teilweise die Tools, damit der Coachee ungefähr weis, was ihn erwartet. Bei meinen Coachees mit Einschränkungen mache ich das oftmals nicht. Es kann hier zu Missverständnissen oder Überforderung kommen, wenn ich erst etwas probiere zu beschreiben, was viele nicht fassen können und vor Beginn des Tools bereits eine Blockade aufbauen. Auch Themen wie “Perspektivenwechsel” sind manchmal schwierig, da hier oft nicht in der jeweiligen Rolle geblieben und der Wechsel nicht verstanden wird.
Was sind Themen, die Menschen mit Behinderungen umtreiben? Gibt es da auch so viele Träumer und Traumjobsucher?
Unser Team ist für Menschen mit Behinderung da, welche aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wollen. Es geht daher bei uns allen vor allem um Zufriedenheit und Passgenauigkeit im Beruf. Menschen mit Behinderungen sind erstaunlich realistisch in der Einschätzung ihrer Möglichkeiten und auch in ihren Träumen. Sie arbeiten in den unterschiedlichsten Bereichen. Von der Marketingabteilung über Bibliotheken, Senioreneinrichtungen, Baumärkte bis hin zum Trockenbau. So vielseitig wie die Menschen sind, so unterschiedlich sind die Berufswünsche. Realitätsferne Berufswünsche bekommen wir nur äußerst selten. Spannend ist hier auch: während bei studierten Menschen der Traumjob oft im oberen Management angesiedelt ist und auch sehr viel mit Macht, Status und Individualität zu tun hat, wollen unsere Mitarbeiter Gabelstaplerfahrer im Baumarkt oder Küchenhelfer in einer Senioreneinrichtungen werden. Einer von allen. Genau die Arbeitskleidung haben, die alle tragen. Individuell sind sie auf Grund ihrer Einschränkung bereits genug.
Gibt es Grenzen bei der Realisierung von Träumen?
Ja, natürlich. Mitunter unterstützt die Familie oder die Betreuer die Vorhaben der Menschen mit Behinderung nicht, wenn sie sich einen Job „erträumt“ haben, der auch durchaus realistisch wäre. Auch das ist wie bei Nicht-Behinderten.
Nicht zu unterschätzen sind auch Ängste vor dem Verlust der sozialen Kontakte. Viele Mitarbeiter haben nur in der Werkstatt Freunde. Es werden sehr gut funktionierende Praktika abgebrochen, um diese Kontakte nicht zu verlieren. Das darf man aus der “gesunden” Perspektive nie unterschätzen und unterstreicht gerade hier den systemischen Ansatz. Es geht um das System des Coachees!
Weitere Fragen, die deine Coachees umtreiben?
Auch Entscheidungen spielen eine Rolle. Da kann es darum gehen, sich selbst bewusst zu werden, was man eigentlich will. Ein Beispiel: Ein Mann wollte in den KFZ-Bereich. Wir akquirierten eine KFZ Werkstatt. Am zweiten Tag wurde das Praktikum vom Meister auf Grund von Verhaltensauffälligkeiten beendet, die wir von dem Mitarbeiter nicht kannten. Im Coaching kam heraus, dass er zwischen den Stühlen stand: er selber wollte schon immer in einer Kita arbeiten. Seine Eltern wollten aber einen “anständigen” Beruf für ihn und sagten immer, der KFZ Bereich sei für ihn Ideal. Dies war auch wieder ein Beispiel, dass umgesetzte fremdgesteuerte Wünsche nicht den Erfolg bringen, als wenn es die eigene Motivation ist. Dieser Mann ist nun seit 4 Monaten in einer Kita und blüht dort richtig auf.
Ich habe mal eingetrichtert bekommen, nie mit Menschen zu arbeiten, die parallel in therapeutischer Behandlung sind – bis ich gemerkt habe „so ein Unsinn“. Wie siehst du das, da du ja auch mit psychischen Einschränkungen zu tun haben?
Man muss seine Grenzen sehen und wissen, wann man ein Therapiethema berührt und wann nicht. Bloß keine Laienpsychologie betreiben! Außerdem ist in meinem Bereich ein Austausch mit dem Therapeuten hilfreich; der sollte das Coaching gutheißen. Es werden hier auch oftmals klare Absprachen getroffen, welche Inhalte nicht im Coaching besprochen werden, um nicht schnell in das Thema eines anderen Formates zu rutschen.
Jens Jannasch coacht auch nebenberuflich in Berlin. Schauen Sie mal rein.
PS: Sollte Ihr Interesse geweckt worden sein, können Sie hier gerne das Buch bestellen. Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen sie weitere Coachings für diese Personengruppe. Und das ist wichtig, denn es gibt keine Fördermittel, außerhalb des persönlichen Budgets, das für diese Themen keine Anwendung findet (obwohl es wohl möglich wäre).
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
[…] am 14. Oktober 2013 | Svenja Hofert […]
Das finde ich sehr spannend, weil ich schon öfters Berichte gesehen habe, das diese Menschen viel mehr können, als das was man ihnen zugesteht.