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Karrierecheck Geisteswissenschaften: Alles ist möglich, nur schwieriger

Was willst du denn damit machen? Das ist doch überflüssig! Geisteswissenschaftler werden früh von allen Seiten gegängelt. Macht es Sinn, sie aussterben zu lassen? Oder könnte es sein, dass sie demnächst eine Renaissance erleben? In meinem Karrierecheck Geisteswissenschaften, der den Naturwissenschaften folgt, widme ich mich heute dem womöglich schwierigsten Karrierecheck-Thema. Kann man einem jungen Menschen wirklich ernsthaft empfehlen, heute noch Geisteswissenschaften zu studieren? Jetzt wo durch disruptive Entwicklung sogar ein geisteswissenschaftliches Auffangbecken, das Taxigewerbe, vom Aussterben bedroht ist, wie ich neulich ironisch bei Facebook anmerkte? Ich glaube, ja. Es wird eine Renaissance und neue Anerkennung für Studierende von Fächern wie Geschichte, Politik, Philosophie, Sprachwissenschaft, Germanistik und Exoten wie Islamwissenschaften oder Afrikanistik.
Erfolgreiche Geisteswissenschaftler sitzen überall
Seit 15 Jahren begegnen mir erfolgreiche Geisteswissenschaftler in der Beratung. Auch und gerade im MINT-Bereich, im Marketing und Personalwesen. Sie schaffen es fast ganz nach oben in Pharmakonzerne und in Personalabteilungen, ins Key Account Management und die Geschäftsführung einer Agentur. Aber egal, wo sie hingehen, das Image der Geisteswissenschaften hängt ihnen nach, weshalb viele dann doch noch einen MBA oder etwas Wirtschaftsrelevantes studieren, um sich das Etikett unternehmensrelevanter Kompetenz anhängen zu dürfen. Und das erleichtert in der Tat vieles.
Meine Recherche bei Xing bestätigt meinen subjektiven Eindruck: Alles ist möglich, wenn auch die Mehrzahl der Geisteswissenschaftler sich noch im mediennahen Bereich tummelt, etwa der PR. Selbst die Germanisten, die im Vergleich etwa zu Politikwissenschaftlern noch weniger Relevantes zu lernen scheinen, sind nicht nur in Verlagen und Werbeagenturen untergekommen. So habe ich einen technischen Berater SAP gefunden, Controller und Verkaufstrainer. Auch im Asset Management ist jemand tätig, allerdings mit Zweitstudium BLW. Oder als Security Analyst – allerdings kam davor eine Station beim Auswärtigen Amt.
Überhaupt zeigt sich immer mehr: Ein Studium ist kein Studium, die wirklich erfolgreichen Lebensläufe kombinieren strategisch oder zufällig, Lehre und Studium, Studium und Studium oder intensives autodidaktisches Praxislernen, etwa im IT-Bereich.
Logische Verbunddenker mit verbaler Kompetenz
Warum sollten Geisteswissenschaftler mehr gefragt sein? Sie sind oft besonders gut im Verbunddenken. Sie haben meist ein breites Allgemeinwissen und beobachten interessiert, was in der Welt passiert – was gut für Blicke über den Tellerrand ist. Sie können Beziehungen herstellen, in Problemanalyse oft mehr als mithalten. Viele sind auch mathematisch fit. Was aber sehr oft dazu kommt und ebenso unterschätzt wie wertvoll ist (das Internet ist vor allem Schrift!) ist die meist höhere verbale Kompetenz. Denn was nutzt es, wenn man Probleme analysieren, aber die Lösung nicht kommunizieren kann? Es ist kurz gedacht, diese Fähigkeit nur in PR, Journalismus und Werbetext fruchtbar zu sehen.
Mein eigenes Erststudium war geisteswissenschaftlich. Ich habe mir später immer selbst beigebracht, was ich gerade wissen und anwenden musste: Programmierung, SEO, SEM, Webanalytics, Steuerrecht oder Bilanzierung, Spieltheorie oder das Interpretieren von Studien… Für meine Zwischenprüfung an der Uni Köln musste ich Cicero aus dem Latein übersetzen. Ich lernte bulgarische Sprachmuster und lauter Sachen, die keinen direkten Benefit bringt. Auch mit Ethik hätte ich mich nicht beschäftigt, hätte es nicht dazu gehört.
Das aber genau ist Bildung: es bringt keine direkte wirtschaftliche Wertschöpfung, aber es formt eine bestimmte Art zu Denken. Bildung formt Persönlichkeiten und bildet die Basis für Entwicklung. Bildung ist nicht das, was man in Zeiten des Internets überall bekommt und was zur sofortigen Arbeitskraftverwertung führt. Sie ist nicht das, was die Wirtschaft gerade braucht; das, was man braucht, kann man „on demand“ lernen. Mittlerweile überall: Es gibt richtig gute Uniprofessoren, die lebendige Vorträge ins Netz stellen und immer mehr Problemlösungsvideos….
Plus BWL
Ich finde, es muss sich was ändern, und zwar grundsätzlich. In den Schulen, an den Unis. Ich bin fest davon überzeugt, dass technische Grundlagen und Programmieren in den nächsten 5-10 Jahren für alle selbstverständlich werden müssen. Denn das gehört auch zur Bildung! So wie ich Cicero nicht freiwillig auf Latein gelesen hätte, beschäftigen sich die meisten auch nicht freiwillig mit Programmierung. Sinnvoll wäre ein Studium generale, zu dem alles gehören sollte, was man zum Weltverstehen und Überleben in der Komplexität braucht – Statistik und Basis-BWL-und VWL etwa. Das sind natürlich alles Inhalte, von denen Arbeitgeber direkt nichts haben – aber für mich gehören sie zur Bildung: ich finde, das ist ein Staatsauftrag. Und wenn dann die jungen Leute wieder 28, 29 Jahre sind, wenn sei anfangen richtig Geld zu verdienen, sehe ich kein Problem. Bis zur Rente ist es dann immer noch weit genug.
Doch bis hier ein Umdenken erfolgt, wird Zeit vergehen und da rate ich Geisteswissenschaftlern sich BWL und technisches Grundlagenwissen selbst aufzusatteln oder im Master etwas zu studieren, was Arbeitgeber direkter nutzen können. Und vor allem: möglichst viel praktisch zu lernen. Nebenbei sollte man sich bewusst sein, dass diese Studiengänge mitnichten logisch in Verlage, Redaktionen und Museen führen, was einigen immer noch nicht klar ist. Die Reise kann überall gehen. Und mit dieser Offenheit wird es erst wirklich interessant.
Über mich
Bereits seit 1998 schreibe ich Karriereratgeber, seit dem Jahr 2000 betreibe ich “Karriere & Entwicklung” für Outplacement und Karrierecoaching. 2004 gründete ich meinen ersten Online-Shop, aus dem 2012 Kexpa wurde, 2011 mein Portal Karriereexperten.com. In diesem Jahr kam die Karriereexpertenakademie dazu: verschiedene Weiterbildungen zur Professionalisierung der Methoden und Vorgehensweisen im Karrierecoaching.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Alles sehr wahr und Weise… Guter Beitrag!
Generell bin ich überzeugt wir müssen wieder runter von der Turboverschulung von Studien und Der Schulzeit selbst. Am wichtigsten empfand ich, neben dem Wissenserwerb während meines Studiums die Möglichkeit zu reifen und genügend Zeit zu haben mich mit mir selbst auseinander zu setzen. Ich bin ein wissbegieriger Mensch, ich habe auch im Studium weit über den Tellerrand alles aufgesaugt, was ich als wissenswert erachtet habe. All das hätte ich mit weniger Zeit nicht schaffen könnnen. Ich bin sehr froh, dass ich auf Regelstudienzeiten, inkl.Tunnelblick nicht viel gegegeben habe. Ich habe eine tolle Zeit hinter mir und viele Erkenntnisse über mich und die Welt erlangt.. Das sollte man jungen Menschen nicht verwähren, denn ich finde es essenziell für ein differenziertes, weltoffenes und hinterfragendes Wesen. Ausserdem wäre ich mit einem Regelstudium Banker geworden und togunglücklcih dabei, so bin ich Personaler und bin alles in allem sehr zufrieden….
Herzliche Grüße
Stefan Nette
Hallo Herr Nette, ja, das ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Die Persönlichkeit hat Zeit zu reifen. Und das geht gerade dann wenn es nicht so verschult ist. Ich habe auch keine zeitlichen und sonstigen Vorgaben gebraucht, die mache ich mir selbst. Allerdings können das viele nicht – und das war ja ein Argument für Bologna. Ich hätte das System der Unis bestehen lassen und die Fachhochschulen daneben gern verschulter lassen können. Aber ob Sie Banker geworden wären? Ich weiß ja nicht. Ist jedenfalls gut wie es ist, zumindest bei uns beiden. Was ja irgendwie auch eine Botschaft ist. LG Svenja Hofert
Die starke Trennung der verschiedenen Fachrichtungen ist eine typisch deutsche Marotte. Im angelsächsischen Raum sind die Übergänge viel fließender…
ja, das stimmt. Finde ich auch besser!
Als Geisteswissenschaftler beruhigt mich Ihr Post. Etwas :). Grundsätzlich finde ich Studium-generale-Ansätze auch gut. Weniger davon, gleich alles über Menschen auszugießen, was sie vermeintlich wissen müssen, um arbeitsmarkttauglich zu sein. Können wir das den Menschen nicht selbst überlassen und nur Disziplinen auch an der Uni öffnen für Fachfremde. Und sorry, ich habe auch Karriere gemacht, aber nicht, weil ich mir als Geisteswissenschaftler BWL und Informatik reingezogen habe, sondern weil ich zum einen analytisches und vernetztes Denken ausprobiert habe. Und jede Menge nebenher gemacht habe, z.B. Politik und Zeitungen. Eben keine Statistikschulung oder Programmieren. Ich denke, wir sollten unsere Stärken stärken und nicht alles abfrühstücken. Dazu gibt es in dieser Welt Arbeitsteilung. Und zum zweiten auf die ominösen Schlüsselkompetenzen setzen. Oder müssen wir jetzt alle neueste IT-Tools auf unsere Smartphones rauf und runter deklinieren, um hipp zu sein. Besser noch als IT’ler?
Frank Schabel
Hallo Herr Schnabel, danke für Ihr Feedback. Sehe ich aber etwas anders. Ich denke, man muss bestimmte Dinge einfach wissen, was auch mit der gestiegenen Komplexität zu tun hat. Und weiß man sie, kann man sich spezialisieren. Das Wissen muss nicht in die Tiefe gehen. Aber ein grundlegendes Verständnis nützt und hilft allen. LG Svenja Hofert
Zum Thema ist eben ein interessanter Artikel in der Zeit erschienen:
http://bit.ly/VdGSju
[…] kann man erklären, weshalb eine Kombination aus Kultur- und Ingenieurwissenschaften sinnvoll ist (Svenja Hofert hat das bspw. getan). Man kann dazu einen Imagefilm drehen – oder man kann die Basisliteratur offen […]
[…] kann man erklären, weshalb eine Kombination aus Kultur- und Ingenieurwissenschaften sinnvoll ist (Svenja Hofert hat das bspw. getan). Man kann dazu einen Imagefilm drehen – oder man kann die Basisliteratur offen […]
[…] Karrierecheck Geisteswissenschaften: Alles ist möglich, nur schwieriger – “Doch bis hier ein Umdenken erfolgt, wird Zeit vergehen und da rate ich Geisteswissenschaftlern sich BWL und technisches Grundlagenwissen selbst aufzusatteln oder im Master etwas zu studieren, was Arbeitgeber direkter nutzen können. Und vor allem: möglichst viel praktisch zu lernen. Nebenbei sollte man sich bewusst sein, dass diese Studiengänge mitnichten logisch in Verlage, Redaktionen und Museen führen, was einigen immer noch nicht klar ist. Die Reise kann überall gehen. Und mit dieser Offenheit wird es erst wirklich interessant.” […]
[…] erleichtert in der Tat vieles.“ Der Titel des Artikels, aus dem ich hier zitiert habe, lautet „Karrierecheck Geisteswissenschaften: Alles ist möglich, nur schwieriger“ und fasst damit ganz gut zusammen, wie es um Geisteswissenschaftler in der Wirtschaft steht: im […]