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Gar nicht paradox – mein Harrison-Paradox-Test
Sind Sie auch ein sowohl als auch? Ich finde: Die Situation bestimmt das Handeln. Mal fordert sie eine offene Kommunikation – im positiven Sinn ist das Ehrlichkeit, im negativen Unverblümtheit. Auch Indirektheit hat zwei Seiten: Taktgefühl und ausweichendes Sich-Rauslavieren. Sich in den positiven Bereichen solcher Paradoxe zu bewegen ist einer der Schlüssel zu beruflichem Erfolg, vielleicht der wichtigste überhaupt.
Neulich lieferte mir ein Kunde dazu ein Beispiel. Er war in China als Kommunikationsschnittstelle zwischen chinesischen und deutschen Ingenieuren tätig. Die deutschen redeten Tacheles, die Chinesen „Drumherum“. Nur die „Kommunikationsschnittstelle“ beherrschte beides – in seinen positiven Ausprägungen, denn nur damit erreicht man etwas. Zu viel Direktheit verschließt den anderen und zu viel Ausweichen macht Aussagen wirkungslos.
Nicht nur in interkulturellen Zusammenhängen braucht man oft zwei Seiten einer Medaille, Gegensätze. Je eher man in der Lage ist, diese zwei Seiten der Situation angemessen einzusetzen, desto erfolgreicher wird der Job ausgeübt werden können.
Genau hier setzt das Harrison Paradox an, von einem Dr. Harrison entwickelt, den ich leider nicht mal bei Wikipedia finden konnte:
“An individual possesses the qualities of frankness and diplomacy, two apparently antithetical behavioural traits. Most behavioural assessment instruments would score these traits on a linear scale, and eventually produce results that would reveal the individual as either a frank or a diplomatic person. In contrast, Harrison Assessments investigates just how frank an individual is compared to how diplomatic, since a person can possess both traits, or neither. (…)”
Schon länger trage ich die Frage mit mir herum, ob es eigentlich sinnvoll ist, dass wir – in Deutschland – deutlich ausgeprägte Eigenschaften goutieren, aber nicht unbedingt die Fähigkeit, situationsbedingt beide Seiten einer Medaille anzuwenden. Wir sehen nur entweder Offenheit oder Taktgefühl – selten beides.
Insofern und weil ich mich gern teste, war ich gern dabei, als mir eine kürzlich nach zwei Jahren aus Asien zurückgekehrte Trainerin den Zugang für das Harrison Paradox anbot, ein Verfahren, das hierzulande noch kaum bekannt ist.
In Tests wie dem DISG kommt immer heraus, dass ich durchsetzungsstark bin – ich kann aber auch weich sein, wenn es sinnvoll ist und die Situation es verlangt. Zum Beispiel erzählte mir neulich jemand die gleiche Geschichte zum dritten Mal. Ich habe nicht darauf hingewiesen, obwohl es in meinem Verhaltensportfolio läge, es zu tun. Ich hatte meine Gründe, in dem Fall NICHT offen zu sein. Mein Harrison Paradox zeigt dann auch bezogen auf das Kommunikationsverhalten, dass beide Seiten ausgeglichen sind.
Es liefert mir auch eine Erklärung für andere Widersprüche. So bin ich einerseits extrem flexibel, lege Wert aufs große Ganze und agiere situationsbezogen ohne Plan – andrerseits bin ich strukturiert und achte fast nervend genau auf Professionalität, auch im Detail. Beim Big5 zeigt die eher niedrige Gewissenhaftigkeit das nicht – die „andere Seite“ bleibt hier verdeckt. Das Harrison Paradox dagegen sieht diesen Unterschied, der für die Vorhersage von Leistung aus meiner Sicht wichtig ist.
Der Test wird online absolviert. Zunächst war ich kritisch, weil ich schon einmal einen Test in dieser Art gemacht hatte, dessen Ergebnis mir gar nichts gebracht hatte: Es werden Aussagen in Rangfolgen geschoben. Man kreuzt also nichts an. Es geht auch nicht um entweder-oder. Beim Übergang von einem zum anderen Schritt wurde ich aufgefordert, die Aussagen noch mal zu überprüfen; eine Konsistenzprüfung ist direkt inkludiert. Auch in der Auswertung wird gesagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ich im Test ehrlich gewesen bin (an die 90%). Ich höre immer wieder, dass Klienten bei Assessments schummeln; die meisten sind schlau genug, solche Systeme zu durchschauen. Bei diesem Test scheint mir das Schummeln schwer bis unmöglich.
Das Ergebnis hat mich zwar nicht überrascht, ich finde aber die Art der Darstellung aufschlussreich. Ausgewogenes Verhalten liegt im oberen rechten Quadranten. Der Verhaltensradius einer Person zeigt sich in einem Schatten um einen Punkt. Je größer dieser ausgeprägt ist, desto größer das Verhaltensrepertoire.
Unter Stress kann sich Verhalten gegensätzlich auswirken, das sieht man im linken Quadranten. So denke ich sowohl analytisch als auch intuitiv, unter Stress kann ich aber plötzlich ins Gegenteil kippen und entscheide zu intuitiv. Das stimmt tatsächlich; ich bereue dann meine Spontanentscheidungen – etwa Zusagen für Artikel oder Veranstaltungen.
Als Einsatzbereich für den Test sehe ich die Personalauswahl, aber vor allem auch die Personalentwicklung, da Potenziale deutlich sichtbar werden. Auch im Karrierecoaching kann die Anwendung sinnvoll sein. So gibt es zusätzliche Reports mit beruflichen Hinweisen und sogar Berufsempfehlungen. Hierbei wäre ich indes vorsichtig angesichts einer Arbeitswelt, in der Berufsbilder sich auflösen. Auch Handlungsanweisungen für die Führungskraft soll es geben. Hier bin ich nicht sicher, inwieweit das in Deutschland mit Blick auf starke Arbeitnehmervertretungen überhaupt vertretbar ist. Die beste Zusammenstellung von Infos zum Harrison Paradox habe ich hier gefunden.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Interressanter Test! Er schließt ganz klar eine Lücke, die jeden nerven muss, der sich mit Tests beschäftigt. Danke für den Bericht!
Hallo Frau Hofert, vielen Dank für diese schöne Darstellung des Harrison Paradox-Graph aus Ihrer eigenen Sichtweise! Als Anbieterin des Harrison Assessments möchte ich zu Ihrer Frage ob die Handlungsanweisungen für Führungskräfte in Deutschland vertretbar sind kurz sagen: ja, keine Sorge! Die Führungskraft wird zum Beispiel darauf hingewiesen dass sein Mitarbeiter viel Lob braucht und gerne im Team arbeitet. Oder dass die Mitarbeiterin keine vorgegebene Struktur benötigt und gerne Verantwortung für Entscheidungen übernimmt. Diese Hinweise sollen die Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Mitarbeiter verbessern und beiden helfen. Meine Erfahrung: auch Arbeitnehmervertreter stehen dem Harrison Assessment positiv gegenüber da es grundsätzlich wertschätzend ist und Mitarbeiter nicht in “Schubladen” gesteckt oder “gut/schlecht” Kategorien eingeteilt werden. Man sollte die Arbeitnehmervertreter nur (wie immer) rechtzeitig einbinden und am besten das Assessment einmal selbst ausprobieren lassen. Viele Grüße, Geertje Achterberg
dankeschön für die Ergänzung! LG Svenja Hofert
Sehr geehrte Frau Hofert,
vielen Dank für den aufschlussreichen Artikel, zumal ich nächste Woche mit dem Test konfrontiert werde.
Liebe Grüße, alles Gute,
Slavisa
[…] Tests besprochen, etwa den EverythingDISG, den Gallup StrengthFinder, die Big Five, Reiss Profile, Harrisson Assessments und das IE-Profil geschrieben. Als ich „voll durchleuchtet“ schrieb, ahnte ich bereits, […]