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Plug & Play-Arbeitskräfte: Warum Arbeitgeber suchen, was es nicht gibt

Manche glauben es erst, wenn sie es selbst erfahren. 100 Bewerbungen? 300? Das ist keine Ausnahme, das ist Normalität. Bei Fachkräften. Bei Führungskräften. Akademikern. Kurzum, bei denjenigen, die die Wirtschaft angeblich so dringend sucht. Gestern gab es dazu einen sehr gut recherchierten Bericht in der ARD-Dokumentation „Das Thema“. Ich möchte die Thesen aus der Reportage hier zusammenfassen und mit meinen eigenen Erfahrungen anreichern:
Es gibt keinen flächendeckenden Fachkräftemangel
Es fehlen Mitarbeiter in bestimmten Regionen, aber keinesfalls überall. Das merkt man schon in Hamburg: Einige wenige Qualifikationen laufen gut, z.B. bestimmte Skills im IT-Bereich. Doch schon bei vielen klassischen Funktionen wird es schwierig. Controllerstellen gibt es beispielsweise seit einiger Zeit weniger, vor allem im hochqualifizierten Sektor. Das erlebe ich selbst durch Rückläufe und habe kürzlich bei Hays auch den statistischen Beweis im Fachkräfte-Index Finance gefunden. Controller haben meist studiert. Doch es werden Finanz- und Bilanzbuchhalter gesucht. Das sind oft Mitarbeiter, die auch mit einer kaufmännischen Ausbildung weiterkommen. Apropos Akademisierung.
Plug & Play: Bitte nur „fertige“ Fachkräfte
Eine Personalberaterin in der Reportage fomuliert es sehr treffend mit „Plug & Play“: Arbeitgeber wollen Mitarbeiter, die sie einfach an ihr Betriebssystem andocken können, ohne Einarbeitung, ohne Schulung. Es werden Bewerber ausgesucht, die 100% passen, und zwar auch von ihrer Branchenerfahrung und mehr noch Branchensegmenterfahrung her. Im letzten Jahr habe ich vermehrt einen neuen Absagegrund in den Briefen gelesen, und zwar „keine/fehlende Branchenerfahrung“. Das offiziell zu formulieren ist AGG-konform, wäre aber noch vor 10 Jahren undenkbar gewesen. Es widerspricht komplett den Entwicklungen am Arbeitsmarkt: Durch zunehmende Segmentisierung, immer kürzere Lebenszyklen und abnehmende Verweildauer auf einer Stelle, „überleben“ sich Branchensegmente schneller. Wo früher Wechsel über Branchengrenzen hinaus möglich war, wird er im Moment immer schwieriger. Keine Erfahrung im Anlagenbau? Keine Chance! Selbst für Funktionsbereiche, in denen Prozesskenntnisse nicht oder nur bedingt nötig wären.
Deutsche Wirtschaft: Export-Fachkräfte sind billiger
Im Film wurde ein griechischer Arzt vorgestellt, der in einer Klinik in Künzelsau trotz 10 Jahren Erfahrung im Heimatland als Einsteiger eingestellt wurde. Kostensparend. Die beiden dazu interviewten Klinikchefs waren sich wahrscheinlich nicht annähernd bewusst wie Gutsherrenhaft ihr Auftreten wirkt. „Ja, die Ausbildung sei schon im Wesentlichen gleich.“ Hm…. „Bis auf ein paar Kleinigkeiten“, Arme verschränkt. Anderes Beispiel: Der spanische CNC-Fräser, der mit Freundin nach Sachsen gezogen war. Arbeit super! Nur das Umfeld! In dem Örtchen war nichts los, Kontakte zu Einheimischen – Fehlanzeige. Kann man es dem jungen Mann verdenken, dass er das Weite gesucht hat? Das Leben ist nicht nur Arbeit, weder für Deutsche noch für andere EU-Bürger. Die Wahrheit unterm Strich: Es gibt ortsweise Fachkräftemangel, der aber auch seinen Grund hat (nichts los in der Kleinstadt). Kaum ein deutscher Großstädter würde an einen Ort mit geringer Lebensqualität ziehen. Was ist das für eine arrogante Haltung, das von Menschen anderer Nationalitäten zu erwarten? Nur, weil deren Wirtschaftslage weniger gut ist?
Zahlendreherei bei Ingenieuren
Dass den Herrschaften beim VDI, also dem Verband der Ingenieure, statistisches Grundwissen fehlt, hat sich unter anderem via Simone Janson und Spiegel Online im Internet schon rumgesprochen. Die lustige Ingenieurlückenberechnung ist schon aus der Fernbetrachtung eine Lachnummer und ganz leicht auseinander zu nehmen. Die praktische Erfahrung sagt: Junger Ingenieur mit 100 Bewerbungen und kaum 20% Einladungen? Normal! Gut, diese Quote ist immer noch sehr viel besser als bei Personalern, Marketern, Biotechnologen. Und würde statt der 2,8 eine bessere Note da stehen, wäre sie noch mal besser. Aber: Ein Zeichen des Ingenieurmangels sieht anders aus! Richtig problematisch wird es mit mehr als sechs Jahren im Job, sofern nicht zufällig die “richtigen” Branchenentscheidungen getroffen wurden und was richtig ist, weiß man sowieso erst hinterher). Nach dem 2. Weltkrieg gab es mal eine schlimme Ingenieurschwemme, erzählt man mir. Davon sind wir vielleicht nicht mehr weit entfernt. Zu viele hören auf die Rufe nach immer mehr MINT.
1:300 ist kein Mangel, 1:6 auch noch nicht
300-400 Bewerbungen auf eine Traineestelle – wo ist da der Fachkräftemangel? Sechs Personen auf eine Seniorposition fern der Großstadt, selbst das kein Zeichen für Mangel. Offensichtlich, so eine weitere These des Berichts, gehe es darum, möglichst viel Auswahl zu haben. Das genau führt zur Plug&play-Haltung.
Ich wünsche mir mehr Arbeitgeber, die klug genug sind, zu erkennen, dass es im Wettbewerb ihr Vorteil sein wird, wenn sie sich gegen den Strom verhalten und innovativ in ihrer Personalpolitik sind. Wenn sie beispielsweise sehen, dass es Branchenfremde geben kann, die ein wahrer Schatz sind, wenn man ihn nur hebt. Die erkennen, dass es zu kurz gedacht ist, Arbeitnehmer aus der EU in ein Dorf zu importieren und zu hoffen, dass Arbeit zum glücklich-sein reicht. Und die begreifen, dass Ausbildung nichts ist, das man an Hochschulen delegieren kann.
Über mich
Bereits seit 1998 schreibe ich Karriereratgeber, seit dem Jahr 2000 betreibe ich “Karriere & Entwicklung” für Outplacement und Karrierecoaching. 2004 gründete ich meinen ersten Online-Shop, aus dem 2012 Kexpa wurde, 2011 mein Portal Karriereexperten.com. In diesem Jahr kam die Karriereexpertenakademie dazu: verschiedene Weiterbildungen zur Professionalisierung der Methoden und Vorgehensweisen im Karrierecoaching.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Hallo Svenja,
den Bericht hab ich gestern auch gesehen und war nicht nur über die Ärzte in Gutsherrenmanier peinlich berührt. Auch die grauen Herrn des VDI oder der Agentur für Arbeit wirkten alles andere als vertrauenserweckend. Da wird nach wie vor eine Arroganz an den Tag gelegt, dass es einen grausen kann.
Das Buch “Mythos Fachkräftemangel” von Martin Gaedt (er war auch kurz im Beitrag zu sehen und wurde ja auch schon bei dir im Blog besprochen) hat mir nochmal sehr schön klargemacht, dass Arbeitgeber zuerst an ihrer Haltung arbeiten müssen, wenn sie gute Leute für sich gewinnen wollen. Und dass sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen als immer wieder die gleichen floskelhafte Anzeigen zu schalten.
Außerdem halte ich “Hire for attitude – train for skills” für die bessere Wahl als “Plug and Play”.
Sonnige Grüße
Sabine
Hallo Sabine, ja, nicht, es ist wirklich zum Fremdschämen. Vor allem, da diesen Ärzten Ihr Auftreten nicht bewusst war, sonst wären Sie ja nie und nimmer vor die Kamera gegangen. Man hält sich für großzügig. Hire for attitude finde ich auch weitaus sympathischer, wird selten gemacht. LG Svenja
Hallo Sabine,
das ungute Gefühl was ich beim Interview mit den Ärzten hatte, ist mit “Gutsherrenmanier” hervorragend ausgedrückt.
Gruß
Dirk
Danke Dirk, das hatte Svenja Hofert oben schon so ähnlich beschrieben und ich konnte es 1:1 teilen als ich gestern den Beitrag sah. Martin Gaedt hat darüber ja auch in seinem Buch geschrieben.
Ich habe vor meiner Selbstständigkeit mehrere Jahre im HR-Bereich eines großen Konzerns gearbeitet und bin sehr froh, dass ich diesen Satz nun in Vergangenheitsform schreiben kann ;o)
Genau das, in kürzerer Form habe ich gestern in der Arbeit.Zeit.Leben Gruppe von Xing gesagt (Hier: http://bit.ly/1pc1mnt
) . Ich bin selbst HRler und die Praxis kotzt mich an, ich kann glücklicherweise etwas anders arbeiten, aber wenn ich das Geschrei vom Fachkräftemangel höre dann wird mir wiederlich. Ich kann und will es auch nicht feiner ausdrücken, eigentlich müsste man es der Gesamten Bande mal ins Gesicht brüllen. So sehr nervt es mich, wie da mit Menschen umgegangen wird und wie sich hartnäckig die Haltung hält, dass am besten alle Qualifikationsmaßnahmen über den Staat laufen sollten. Hauptsache es kostet unsere feine Wirtschaft nichts und die Steuern werden dann auch noch schön vermieden mit einer Dependance in Tikitaki 😉 oder Irland… -.-
Ich kann Ihnen da nur zustimmen. Es klafft eine so unendliche Lücke zwischen Theorie und Praxis. Fürchte aber, dass Schreien nicht ankommt: Druck erzeugt Gegendruck. Die Firmen müssen es selbst merken. Doch die Politik könnte einiges tun – indem Andrea Nahles z.B., die sich laut Bericht noch “keine Meinung” gebildet hat -, mal sieht was da passiert. Und dass die Bildungspolitik diesen Akademisierungsfeldzug mal überdenkt. LG Svenja
Ich kann das voll und ganz bestätigen. Ich arbeite bei einem Dax30 wo Fachkräftemangel ständiges strategisches BLA-BLA ist. Dabei bekommen wir seit Jahren massenhaft Bewerbungen (kaufmännisch als auch technisch) und von einem Mangel kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, pickt man sich die Plug&Play Leute raus, die dann meistens in Positionen ohne weitere Lernkurve landen (höherer Sachbearbeiter). Aber einmal in den Genuss des IG-Metall Tarifs gekommen bleiben Sie dann auch.
Auch resultiert der Überfluss in einer Monotonie bei der Personaleinstellung, denn alle Stellen werden von ähnlichem Personal und gleichem Lebenslauf-Muster besetzt (z.B. Controller: 3-6 Jahre Erfahrung, Branchenerfahrung, Masterstudium Finance, Ausland, SAP-Erfahrung). Dabei wird Diversity so hochgelobt! Ach ja wir leben ja Diversity denn der Controller ist eine Frau, ein Ausländer, ein Ostdeutscher oder hat einen anderen Glauben hat? *Ironie aus*
Ein Hauptproblem ist m.E. der fehlende Mut bzw. die fehlende Flexibilität mal branchenfremde oder Leute mit Potenzial und Attitüde einzustellen. Da gefällt mir der amerikanische Markt besser. Da zählt Potenzial immer noch mehr als der Lebenslauf.
Ich kann das voll und ganz bestätigen. Ich arbeite bei einem Dax30 wo Fachkräftemangel ständiges strategisches BLA-BLA ist. Dabei bekommen wir seit Jahren massenhaft Bewerbungen (kaufmännisch und technisch) und von einem Mangel kann überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, pickt man sich die Plug&Play Leute raus, die dann im meistens in Positionen ohne weitere Lernkurve landen (höherer Sachbearbeiter, für einen Akademiker 30-35 der Motivatinonskiller) . Aber einmal in den Genuss des IG-Metall Tarifs gekommen bleiben Sie dann auch.
Auch resultiert der Überfluss in einer Monotonie bei der Personaleinstellung, denn alle Stellen werden von ähnlichem Personal und gleichem Lebenslauf-Muster besetzt (z.B. Controller: 3-4 Jahre Erfahrung, Branchenerfahrung, Masterstudium Finance, Ausland, SAP-Erfahrung). Dabei wird Diversity so hochgelobt. Ach da… wir leben ja Diversity denn der Controller ist idealerweise eine Frau, ein Ausländer, ein Ostdeutscher oder hat einen anderen Glauben. ? *Ironie aus*
Ein Hauptproblem ist m.E. der fehlende Mut bzw. die fehlende Flexibilität mal branchenfremde oder Leute mir Potenzial und Attitüde einzustellen. Da gefällt mir der amerikanische Markt besser. Da zählt Potenzial immer noch mehr als der Lebenslauf.
Hallo Johann, lieben Dank für den praktischen Einblick. Gehobene Sacharbeiter – ja, diese Form von Motivationskiller kenne ich. herzliche Grüße Svenja Hofert
Schöne Reportage und schöne Zusammenfassung von Ihnen. Ich könnte als BioIng ohne adäquaten Job einfach heulen wenn ich das sehe/lese. Mir vergeht nur noch mehr die Lust Bewerbungen zu schreiben.
Zu den 32.000€ möchte ich noch erwähnen, dass selbst das unterste Einstiegsgehalt im Öffentlichen Dienst für Ingenieure bei um die 35.500€ liegt (zumindest wenn sie das zahlen, was nach der Einteilung der Entgeldgruppen vorgesehen ist)…
[…] als Assistent eine Anstellung gefunden hat. Und wie es der Chefarzt in bekannter Gutsherrenmanier ausdrückte, wird er dem deutschen Standard fast gerecht. Im Interview mit dem griechischen […]
Man möchte sich mit der Hand vor die Stirn schlagen. Gut aufgestellter Mittelständler in der Provinz bietet Work-Live-Balance, Gehalt, Aufgabe, alles im richtigen Rahmen an. 1. Kandidat etwas zu alt, 2. Kandidat etwas zu wenig SAP, 3. Kandidat ohne Kommentar, können wir den ersten Kanidaten vielleicht doch haben? Nach drei Monaten mit letztem Kontakt sagt der dann aber, danke habe mich umentschieden.
Man bekommt zuweilen den Eindruck, dass die Personaler oder die Fachabteilungen Angst haben eine falsche Auswahl zu treffen. Bloß nicht den 88%-Kandidaten, wenn der nicht passt bin ich meinen Job los.
Vielleicht sollten die CEOs und Geschäftsführer ihren Mitarbeitern einfach mal sagen, dass sie auch nicht nur Entscheidungen mit 100% fällen, sondern überhaupt eine. Wofür haben wie die Probezeit eingeführt?
[…] Argumente, die den Fachkräftemangel als realistisches Problem darstellen, wurden auch nochmal von Svenja Hofert zusammengetragen und entkräftet. Bleibt die Frage offen, warum eine solche Reportage erst […]
Es gibt einen Fehler im Beitrag. Der Ort ist Eisfeld und liegt in Thüringen. Bin erst vor kurzem mal durch gefahren.
[…] Zeit mehr für Einarbeitung. Svenja Hofert hat diesen Begriff in dem grandiosen Beitrag “Plug & Play-Arbeitskräfte: Warum Arbeitgeber suchen, was es nicht gibt” weitergedacht. Erfahrung wird erwartet, “plug & play” gesucht, aber […]