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Reiss Profile – Hokuspokus oder mehr?
Seit Oktober 2008 bin ich Reiss-Profile-Master. Vorher habe ich mit anderen Tests gearbeitet; fünf Jahre etwa mit dem Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP). Dieser Test war vor allem meinen Kunden zu komplex. Der Fokus auf das Berufliche erwies sich als schwierig, denn der Mensch ist nun mal ein Ganzes. Und wenn er sich privat und beruflich anders verhält, ist dieses unterschiedliche Verhalten für die Karriereberatung relevant. Ich stellte zudem fest, dass sich nach drei Jahren weder ich noch die Klienten an die Ergebnisse des BIP erinnern konnten. Es blieb wenig hängen. Das ist bei den Reiss-Profilen anders. Sie verankern sich besser; das Feedback der Klienten ist durchweg positiver.
Ich setze den Test ein, wenn ich denke, es macht Sinn oder der Kunde es explizit wünscht. Ich verkaufe ihn lange nicht jedem Kunden. Seit der Zertifizierung in der Denk Fabrik am See habe ich 200 Tests ausgewertet, wie mir mein geschützter Master-Bereich im Internet verrät. Und nach wie vor empfinde ich den Test als nützlich und hilfreich. Auch wenn mir nie gefallen hat, dass die Motive eine rote und grüne Seite haben und rot zumindest in unserem Kulturkreis immer instinktiv als „negativ“ aufgefasst wird, wogegen ich steuere, in dem ich erstmal ein schwarzweißes Profil zeige. Nun gut, bei anderen Tests gibt es oft eine Minus- und Plus-Seite, was auch nicht viel besser ist. Man muss immer sehr deutlich sagen, dass die Farben keine Bewertung in “gut” oder “schlecht” darstellt, jeder Mensch so ist, wie er ist – und aus seinen Motiven das beste machen kann und sollte.
Mit meinem eigenen Reiss-Profil habe ich viel mehr über mich selbst gelernt als mit anderen Tests. Ich habe zum Beispiel verstanden, warum die zwei Jahre ohne Sport in meinem Leben die schwierigsten waren, was mir vorher nicht klar war: Als Bewegungsmensch brauche ich drei bis vier Mal die Woche Auspowern. Ebenso wie das Essen eine ganz zentrale Genuss-Motivation für mich ist. Treibe ich keinen Sport und kann ich mich nicht auf gutes Essen freuen, gerate ich aus dem Gleichgewicht (ja, schmunzeln Sie ruhig, so ist das!) Ich habe Klienten gehabt, bei denen war es ähnlich. Ein Selbstständiger mit Geschäft etwa, der aufgrund der guten Auftragslage nicht mehr zum Sport kam. Der Plan, den Laden Mittags zu schließen, um die Zeit für Bewegung zu nutzen, reichte für eine deutliche Verbesserung des Wohlbefindens aus. So einfach ist es natürlich nicht immer.
Die Motive „Essen“ und „körperliche Aktivität“ sind oft Steine des Anstoßes in den Medien. Über die in diesen Bereichen gestellten Fragen, echauffiert sich auch die Autorin eines aktuellen Zeit-Artikels, Bärbel Schwertfeger. Ich schätze die Autorin, weil sie kompetent ist und fundierte Meinungen äußert. So empfinde ich ihren Bericht auch nicht so kritisch wie viele meiner zertifizierten Kollegen, die sich derzeit in Briefen und Mails äußern. Es mag daran liegen, dass die Reiss-Profile für meine Karriereberatung ein „Nice-to-have“ sind, aber keine Arbeitsgrundlage. Kunden kommen nicht wegen Reiss. Insofern kann mir schlechte Presse auch das Geschäft nicht vermiesen.
Auch wenn es Unternehmen gibt, die Reiss in der Personalentwicklung nutzen: Ich bin gegen den Einsatz von den Reiss-Profilen im Unternehmenszusammenhang. Ich finde sie dort genauso unpassend wie den MBTI, den amerikanische und manche asiatische Firmen gern verwenden. Der Grund ist einfach: Während es in einer Karriereberatung um den Menschen als Ganzen geht, ist beruflich das Ganze zwar wichtig, aber auch sensibel und angreifbar. Ein Mitarbeiter ist in einer abhängigen Situation – und in einer abhängigen Situation ist zu große Offenheit über das private Ich immer ein Risiko.
Der Mitarbeiter ist vom Gutdünken seines Vorgesetzten abhängig, kann von Kollegen „überfahren“ oder gemobbt werden. So wie Diskriminierung aufgrund eines Migrationshintergrunds oder z.B. der sexuellen Orientierung oft unbewusst erfolgt, kann auch Diskriminierung eines Kollegen mit z.B. „niedrigem“ Status, der sich z.B. nicht markenaffin kleidet, in einem Statusträchtigen Umfeld unbewusst erfolgen. Man braucht vielleicht keinen Test, um herauszufinden, wie jemand denkt und fühlt, man ahnt es meist, aber der Test bringt es dann – absolviert man ihn offen im Team – eben doch und seinen Ausprägungen bisweilen überraschend auf den Punkt.
In der Karriereberatung und im Coaching ist die Situation anders. Als Beraterin darf ich wissen, dass mein Kunde eine „grüne Anerkennung“ hat. Anders als der Chef wird der Berater das nicht ausnutzen, sondern Strategien zum Umgang mit einer hohen Ausprägung entwickeln helfen. Besonders kritisch in diesem Zusammenhang empfinde ich das Merkmal “hohe Ziel- und Zweckorientierung” (niedrige “Ehre”): Angenommen ich testete einen Account Manager im Team und sähe als Chef, dass er eine hohe Ziel- und Zweckorientierung hatte. Ich wüßte, dass er zu illegalen Preisabsprachen neigen könnte, vor allem wenn er zugleich “hohe Anerkennung” hat (gut, nun könnte man sagen, so lässt sich vorbeugen… aber….).
Natürlich kann man das auch im Unternehmenskontext ins motivationsseitig Positive drehen: Weiß ich, dass ein Mitarbeiter „Beziehungen grün“ und „Essen grün“ hat, mache ich ihm mit einem Essen unter Freunden eine Freude. Soweit könnte betriebliche Motivation reichen, sollte sie meiner Meinung nach aber nicht. Job ist Job. Die Anwendung der Reiss-Profile im Sport finde ich dagegen sinnvoller. Ein Trainer steht in anderer Beziehung zu seinem Team als ein Chef. Auch in der Paarberatung passt das Reiss-Profil sowie unter Umständen bei Teamgründern.
Dass die Reiss Profile sich – das ist meine private Meinung – nicht für die Personalentwicklung und Personalauswahl eignen, macht sie nicht schlechter. Wer diesen Blog regelmäßig liest, weiß, dass ich mich leidenschaftlich mit Tests beschäftige fast alle kenne und selbst probiert habe, die es am Markt gibt. Ich bin dabei eine Praktikerin, keine Wissenschaftlerin. Für mich ist das Ergebnis wichtig: Finden Klienten sich wieder, hilft es Ihnen, sich zu verstehen? Das zählt, die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit ist aus meiner Sicht ausreichend nachgewiesen; aber letztendlich beurteilen kann ich sie nicht.
Die Reiss Profile sind für mich – neben Belbin und dem Karriereanker, die ich seit 12 Jahrne nutze – das beste Instrument in der Karriereberatung, weil sie Verhalten gut vorhersagen. Sie sagen, wie jemand führt, wie jemand lernt, welche Art der Selbstständigkeit er/sie braucht, in welchem Berufen und Branchen er/sie zufrieden sein wird. Gleichzeitig sind sie nicht absolut, gerade die Interpretation des Zusammenspiels der einzelnen Motive erfordert viel Erfahrung, erlaubt dabei aber immer auch Flexibilität. Diese Flexibilität hat nichts mit dem „Barnum-Effekt“ zu tun, den Schwertfeger beschreibt, nachdem in einem Persönlichkeitsprofil ähnlich wie in einem Horoskop jeder etwas in den Motiven finden kann, sondern damit, dass es – gottseidank! – individuelle Ausgestaltungen der Motive gibt. Jemand kann eine „grüne Macht“ unterschiedlich leben, in direkter Mitarbeiterführung, aber auch in übertragener Führung, Meinungsführung oder als Lehrer. Wie er sie lebt oder gern leben möchte, verraten die anderen Motive. Das Zusammenspiel kann nur ein Berater erläutern, hier kommen Textbausteine, die der Reiss-Test ebenso hat wie alle anderen Tests, schnell an seine Grenzen.
Um Tests auszuwerten, braucht man eine persönliche Atmosphäre. Ohne gegenseitiges Vertrauen darf man keine Testauswertungen machen. Deshalb ärgere ich mich immer wieder über die sonst so gute Elmshorner Nordakademie, die ihre Studenten ausgiebig testet und mit den Ergebnissen allein lässt oder bestenfalls kurz mit ihnen darüber spricht. Testergebnisse sind immer und in jedem Fall erklärungsbedürftig. Die Gefahr besteht, dass ein Testergebnis missverstanden wird – oder schlicht dass es falsch ist.
Wer einen Test auswertet, braucht deshalb auch eine Vertrauensperson, mit der man seine Ergebnisse gemeinsam besprechen und die Gedanken des Getesteten auffangen kann. Die Autorin des kritischen Beitrags, Frau Schwertfeger, hat nur eine Auswertung am Telefon gemacht. Insofern kann ich sogar verstehen, dass sie das, was sie bekommen hat, so kritisch beurteilt. Andrerseits finde ich es heikel, im selben Artikel ausgerechnet die Konkurrenz, die Entwickler des Bochumer Inventars nämlich, zu zitieren…
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Gerade gefunden: Auch mal eine kritische Stimme zum Reiss-Profil: http://bit.ly/SMe25C
ja, in diese Richtung habe ich das auch schon gelesen. Das wird in dieser Perspektive sogar richtig sein, ändert aber nichts daran, dass das Verständnis der 16 Motive sehr hilfreich ist – für den Anwender, der sich und andere dadurch besser versteht.
Personaler wollen immer Verhalten voraussagen: Meiner Meinung nach geht das nicht, man dreht sich immer im Kreis. Wer es versucht, versteht nicht, was genau Reiss uns sagt: Verhalten kann ganz unterschiedlich entwickelt werden, entscheidend ist allein die Motivation, es zu tun (oder nicht).
Es ist also gar nicht der Ansatz des Reiss-Profils Verhalten vorherzusagen (deshalb lehne ich den Einsatz im Personalbereich auch ab). Darin besteht die Besonderheit. Für die Personalabteilung ist das nur sehr bedingt hilfreich – soll es aber nicht. Das missverstehen die Leute, die es unter diesem Aspekt bewerten. LG Svenja Hofert
hab mal ein Dokument zur Wissenschaftlichkeit des Reiss-Profils hochgeladen. Habe gerade erfahren, dass besagter Prof. sehr wohl einen Interessenkonflikt hat, da er selbst Tests (mit-)vertreibt/entwickelt. Das ist also mit Vorsicht zu bewerten.
https://www.svenja-hofert.de/wp-content/uploads/2012/11/wissenschaftlichkeit.jpg
Herr Berger, Sie aben hier mehrmals versucht mit gleichartigen Beiträge auf Artikel von Herrn Pelz hinzuweisen, mit zeitlichem Abstand von drei Monaten. Es ist nicht meine Art Dinge NICHT freizuschalten. Aber hier sieht es deutlich nach Methode aus. Liebe Leser, bei Herrn Pelz – auf den Herr Berger immer wieder hinweisen möchte – ist ein kommerzielles Eigeninteresse zu vermuten, da er selbst Testverfahren entwickelt bzw. an solchen beteiligt ist. LG SH
Hallo, vielen Dank für die ehrliche und begündete Beschreibung des Einsatzes der Reiss-Profile. Ich beschäftige mich gerade mit Erwerb oder Nicht-Erwerb der Lizenz und stelle auch aufgrund Ihres Artikels fest, dass es noch ein wenig warten kann :).
Guten Tag Frau Hofert,
danke für den Artikel – Sie betrachten das Thema aus mehreren Perspektiven, das gefällt mir sehr gut.
Es ist schon toll auf welch wundersame Weise man labilen Menschen das Geld aus der Tasche ziehen kann. Ganz wichtig: Es muss immer irgendein Name hinten dran stehen. In diesem Fall “Reiss”.
Versucht es mal mit ehrlicher Arbeit und wenn es geht ohne Psychogelaber und versuchter Einflussnahme. Das verstehen jetzt die Pädagogen, Psychologen und der Gleichen wahrscheinlich nicht und ist auch nicht wichtig.
Liebe Frau Hofert,
im Text und einem Kommentar widersprechen Sie sich. Einmal heißt es im Text: “Die Reiss Profile sind für mich […] das beste Instrument in der Karriereberatung, weil sie Verhalten gut vorhersagen.” In einem Kommentar wiederum: “Es ist also gar nicht der Ansatz des Reiss-Profils Verhalten vorherzusagen”.
Können Sie das eventuell nochmal klarstellen?