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Wie finde ich den passenden Beratungsansatz für berufliche (Neu-)orientierung?
Wenn Coachs sich selbstständig machen, dann leider viel zu oft mit einem Thema, das zwar jeden arbeitenden Menschen betrifft (Zielgruppe „alle“), aber dabei auch so ausgelutscht ist wie ein altes Kaugummi. Das Thema heißt „Berufliche (Neu-) Orientierung“. Da soll es dann darum gehen, den beruflichen Einstieg von jungen Menschen oder aber den „Change“ Berufserfahrener einzuleiten, eigene Stärken wiederzuentdecken und Jobträume zu realisieren. Diesen Artikel schreibe ich für alle, die sich einen Berater/Coach für berufliche Neuorientierung auswählen und dafür Anhaltspunkte wollen – und für die Coachs selbst. Er soll einen Überblick über den Markt geben und das richtige Angebot.
Was ist drin für mich?
Man kann sich immer viel vorstellen. Und wünscht sich, dass für einen im Berufsleben “mehr drin ist”. Ich habe Ingenieure gesprochen, die davon träumten, als Kulturjournalisten arbeiten. Vertriebler, die Musiker werden wollten. Und eine ganze Menge Menschen, die das Ziel zwar nicht kannten, aber irgendwie hofften, dass es ohne weitere Ausbildung und auch ohne finanziellen Neustart einen Job oder Beruf für sie geben könnte, der besser als mit 50.000 EUR brutto im Jahr bezahlt ist (in der Regel nein). Denn darunter will so gut wie niemand gehen, der mal weit darüber verdient hat.
Die meisten wollen das, was alle machen
Meist wird bei so einem Change dann dahin geschaut, wo alle hinsehen. Die „Verfügbarkeitsheuristik“, die besagt, dass wir etwas für näherliegend halten, wenn wir es oft sehen oder hören, ist hier sehr schön zu beobachten. Sänger, Schauspieler, Journalist, Fotograf und leider auch Coach sind überaus „verfügbare“ Jobs, d.h. wir nehmen diese oft wahr und halten sie deshalb
- für häufiger vorkommend,
- für leichter zugänglich,
- für besser bezahlt als sie sind.
Dabei wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es Talent oder Stärken seien, die in diesen Jobs erfolgsrelevante Faktoren sind. Ich behaupte: Je exponierter ein Job, desto mehr zählt am Ende eine ordentliche Portion Narzissmus – liebe Grüße an eine meine Austauschpartnerin über dieses Thema nach Wien ;-). Hier sei bemerkt, dass Narzissmus durchaus auch positive Seiten haben kann. Ohne ihn gäbe es keine Steve Jobs und Madonnas.
Wenn Sie gestern „The Voice of Germany“ gesehen haben, kann ich Ihnen ein Beispiel nennen, das das vielleicht lebendig vor Augen führt: Der nette, sympathische Versicherungsmensch mit den beiden kleinen Kindern wird auch deshalb Jahrelang nicht auf die Bühne gestürmt sein und stattdessen brav seinen Job gemacht haben, weil er wenig narzisstisch ist. Ganz anders sieht es bei der jungen Dame aus, die sich selbst für „The Voice“ und die Nachfolgerin von Beyonce hält. Für Medienmenschen ist der höhere Narzissmus in Studien bewiesen, für Coachs (bisher) nicht. Ich glaube auch nicht, dass Coachs typischerweise narzisstisch sind, was teilweise erklärt, warum viele unternehmerisch nicht performen (einige streben zu wenig in den Vordergrund, andere verpassen die richtige Dosis). Obwohl es Top-Leute sind. Die Ihnen und mir bekannten VIP-Coachs sind nicht repräsentativ, da sie auch nicht wirklich Coaching anbieten, sondern ihre unternehmerische Dienstleistung. Was klug ist, aber… eben nicht das ist, was sich die Newbies vorstellen, die auf den Markt streben.
Was mit Sinn (WMS)
Gern reicht der Blick der Neuorientierer auch Richtung NGOs, Stiftungen und idealistisch motivierten Unternehmen. Hier kann ich nach vielen Insights nur das Fazit ziehen: Das sieht innen anders aus, als es außen scheint. Fälschlicherweise wird der Sinn des Unternehmenszwecks mit dem eigenen Lebenssinn oder etwas “Höherem” gleichgesetzt. Welche Heuristik das ist, muss ich noch mal nachlesen 😉
Oft wird vernachlässigt, dass es nicht so sehr darum geht, IN einem Job zu arbeiten, sondern dahin zu kommen. Wer von einer Karriere als Regisseur träumt, kann sich das Geschäft zwei Jahre anschauen, um dann zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er vielleicht Talent hat….oder aber das Glück haben auf einen erfahrenen Coach zu treffen, der fragt: „Was denken Sie, was die wichtigsten Eigenschaften sind, sich in diesem Geschäft durchzusetzen?“ Und der zum Interview mit mindestens 10 Regisseuren auffordert, die eine möglichst repräsentative Stichprobe abgeben. Will ich den Markt für Berufssänger recherchieren, sollte ich auch nicht nur mit Madonna sprechen… sondern den Straßenmusiker unbedingt einbeziehen.
Mehr sanfte Lenkung wäre gar nicht schlecht
Das Bedürfnis nach „etwas Besserem“ und “Sinnvollerem” ist sehr stark, denn wir laufen immer desorientierter durch diese Welt. Ich frage mich oft, wohin das wohl führt und ob es andere Wege geben könnte – auch jenseits eines Coachings für berufliche Neuorientierung. Ist es nicht von Vorteil, wenn man seinen Weg schon sehr früh kennt? Wenn man von wohlwollenden Mentoren früh auf eine Spur gesetzt wird, die man verfolgen kann? Ein bisschen so soll es in der DDR gewesen sein, jedenfalls für Systemtreue. Ich kann das überhaupt nicht beurteilen, da ich westdeutsch sozialisiert bin, doch mir gefällt die Idee an sich. Mehr frühe Förderung von Kompetenzen – und zwar nicht nur einseitig von kognitiven – wäre wirklich wünschenswert. Genauso wie eine frühere sanfte Lenkung, denn die Verfügbarkeitsheuristik wird weiter dazu führen, dass Menschen das werden wollen, was sie kennen und all die spannenden Arbeitsfelder etwa in der Robotik für sich nicht sehen, ja Jobs in solchen Umfeldern nicht mit kreativer Arbeit assoziieren. Die bisherigen MINT-Aktionen reichen sichtbar nicht, um das etwas zu ändern.
Verschiedene Typen gefragt
Eine gute Berufsorientierung und auch eine berufliche Neuorientierung verlangt mehrere Ansätze und verschiedene Beratertypen. Um Sicherheit und ein Gefühl für eigene Stärken zu entwickeln, braucht man zunächst jemand, der wohlwollend ist und einen ohne Verzerrung und eigene Wahrnehmungssets als Mensch annimmt. Das kann ein Lehrer oder Coach sein oder irgendein anderer Mentor. Man sollte sich in dieser frühen (bei Berufseinsteigern) oder ersten (bei Berufserfahrenen) Phase mit sich selbst beschäftigen und hat optimalerweise jemanden zur Hand, der einen dabei stützt und fördert. Das können viele Coachs, vor allem auch die, die mit bewährten Systemen arbeiten. Und das Beste ist hier immer noch Life-Work-Planning oder Varianten davon. Der Coach gibt einen Rahmen und Unterstützung, mehr nicht. Diese Vorgehensweise eignet sich für Hochqualifizierte genauso wie für einfacher ausgebildete Menschen.
Zu einem anderen Zeitpunkt – ich nenne das Phase 2 – ist jemand hilfreich, der einen Übergang vom Wohlwollenden ins Kompetente bilden kann und die Erfahrungswissensseite inklusive Marktkenntnis abzubilden vermag, ohne Spezialist zu sein. Das ist vor allem bei höheren Qualifikationen zunehmend wichtig. Manche brauchen später möglicherweise eine weitere Know-how-Stufe, etwa jemanden, der ihnen bei der Bewerbung für ein internationales MBA-Programm helfen oder Kontakte herstellen kann. Das wäre dann Phase 3.
Es sind also mindestens zwei, oft drei Phasen, die bei einer Neuorientierung eine Rolle spielen. Und der Coach der ersten – oft länger andauernden – Phase wird öfter nicht der gleiche wie der der zweiten sein und der der zweiten nicht der der dritten. Es kommt dabei oft vor, dass nach der Motivation in der ersten Phase, etwa durch ein Seminar oder Coaching, Desillusionierung und Ernüchterung eintritt. Die Kurve geht nach oben und fällt dann nicht selten steil ab, um einige Monate und manchmal Jahre durch ein Tal zu wandern. Dann folgt oft das Bedürfnis nach dem nächsten Schritt.
Erste Phase- und Zweite-Phase-Berater sowie Spezialisten
Ich bin oft ein Zweite-Phase-Berater, also jemand an der Schnittstelle Wohlwollend/kompetent und habe viele Ausarbeitungen aus ersten Phasen mit anderen Coachs gesehen. Auf den Zetteln – falls es etwas Schriftliches aus dem Coaching gibt – stehen, wenn Stärken beschrieben werden, oft sehr allgemeine Dinge wie Zuhören und Kommunizieren, kreativ oder organisationsstark sein.
Das entspricht nur selten dem wahren Kompetenzen-Kern, erst recht sind ausgearbeitete Berufsfelder bei näherer Betrachtung oft nicht wirklich passend. Das ist auch nicht schlimm, denn Menschen können sich ihren Sinn nur selbst geben – und Erfahrungen kann man auch nur alleine machen. Das heißt manchmal ist das Streben nach dem “Falschen” ein notwendiger Schritt, um die Suche nach dem richtigen möglich zu machen.
Nehmen wir noch mal das Thema Coaching: Ich kann den (meist) Frauen, die „wissen“, dass sie Coach werden wollen und ebenso “sicher” sind, dass sie es schaffen werden, nur sagen, dass der Markt schwierig ist und ihnen viel Glück wünschen. Ich erspare mir weitere Hinweise, weil ich weiß: Sie werden weghören, mich doof finden und Argumentationen suchen, warum das für sie nicht zutrifft. Diese Haltung lese ich auch in einigen Leserbriefen, die mich anklagen, eine Art Traumjobmörder zu sein.
Tests können vieles klarer machen, was gesprächsbasiert im Trüben bleibt
Was in der ersten Phase aus meiner Sicht oft zu kurz kommt, sind Tests und Assessments. Wir neigen dazu, uns selbst nicht ganz richtig zu sehen, in der Regel überhöhen sich Selbstbewusste und bewerten weniger Selbstbewusste sich schlechter oder sehen sich fast gnadenlos realistisch, was auch nicht erfolgsförderlich ist. Wir sehen bei uns selbst auch selten, was wirklich relevant ist. Mit soliden Testverfahren, Übungen und Rollenspielen, im Grunde einem Assessment, kann man schneller und näher an den Kern kommen. Wir bieten mit dem „PersAssement“® so etwas auch außerhalb des Unternehmenskontextes an, in dem es normalerweise zur Jobvorauswahl gemacht wird. Dadurch können wir auch Aspekte einbeziehen, die für Unternehmen derzeit noch irrelevant sind, vor allem Werte und Motivationen. Eine anschließende Karriereplanung kann dann auch den privaten Bereich einbeziehen und beispielsweise den nebenberuflichen Aufbau eines Coaching-Standbeines.
Abkürzungen wären oft möglich
Meiner Meinung nach könnten Coachs die erste Phase ihrer Klienten oft etwas abkürzen: Muss es wirklich sein, dass jemand zwei Jahre in Berufsfeldern recherchiert, die man schnell hätte abhaken können? Beispiel: Der Ingenieur, der Kulturjournalist werden wollte. Dass er damit kein Geld verdienen wird, hätte der erste-Phase-Coach sofort sagen können, dazu muss man kein Branchenspezialist sein – es reicht ein allgemeiner Marktüberblick. Und dass man mit 35 Jahren und einer 2,9 in BWL von einer FH nicht mehr bei McKinsey landet, hätte ein halbwegs markfitter Coach direkt rückmelden können, bevor sich der arme Klient mit 10 mühsam erstellten Bewerbungen und vielen Telefonaten am Ende auch etwas blamiert.
Interessen weniger wichtig als Kompetenzen
Was mich manchmal an den Erste-Phase-Neuorientierungen stört, ist dass sie weitgehend Interessenbasiert sind und zu wenig kompetenzorientiert (Kompetenzen kann man eben nicht nur in der Selbstbeschreibung ermitteln und auch das von meist guter Stimmung gefärbte Feedback in einem Berufsorientierungsseminar ist dafür nur bedingt geeignet). Dass Interessen für den beruflichen Erfolg oft nur sekundär sind, weil letztendlich Kompetenzen entscheiden, lässt sich in jedem Psychologiebuch nachlesen. Dass Interessen und Kompetenzen oft weniger wichtig sind als Werte, ist meine These, die ich vielleicht noch mal belegen kann… (sonst, liebe Leser aus dem universitären Bereich: eine schöne Hypothese für die Masterthesis). Job-Zufriedenheit ist keine Frage der Arbeitgeber-Branche, sondern eine Frage des Unternehmens-Ökosystems, in dem der Mensch seine Kompetenzen gut entfalten kann oder nicht. NGOs mögen sinnvolle Sachen machen, aber in das Ökosystem vieler dieser Unternehmen passen die meisten, die von einer Arbeit dort träumen, dann eben doch nicht rein, es ist oft ein Schonstein.
Empfehlungen sind nötig, viele finden ihre Lösung nicht selbst
Beratung hat ganz viel mit der Persönlichkeit und dem Erfahrungs-Hintergrund des jeweiligen Coachs zu tun. Der Stallgeruch spielt eine wesentliche Rolle. Leider beziehen die meisten Neucoachs das nicht wirklich ein. Für die erste Phase mag es in der Tat weitestgehend egal sein, welchen beruflichen und Erfahrungshintergrund jemand hat. Da ist es wichtig, dass psychologisches und/oder pädagogisches Werkzeug und Methoden genutzt werden können. Für die zweite Phase und erst recht die dritte ist es aber sehr wichtig, woher jemand kommt und was er/sie verkörpert und/oder verkörpern kann. Auch bei der Beratung junger Menschen werden Kompetenzen aus der 2. Phase wichtiger werden. Ein Berater muss den Arbeitsmarkt einschätzen können und die Beratenden wollen und wünschen Empfehlungen. „Unser Sohn ist aus so einem Berufscoaching noch verwirrter rausgekommen als er vorher war“, erzählte mir eine Mutter. Der Coach hatte Stärken Kompetenzen und ganz viele Möglichkeiten offen gelassen, konnte aber keine Vor- und Nachteile dieses oder jenes Weges aufzeichnen und auch nicht richtig erklären, welche Jobs es z.B. in einer Werbeagentur gibt. Sie suchte jetzt einen Zweite-Phase-Coach.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Top, Frau Hofert, kann ich so unterschreiben. Valide Tests und Profile können den Prozess erheblich abkürzen. Und dass Wollen und Können tatsächlich nicht immer übereinstimmen, kommt leider öfter vor.
In diesem Sinne haben Sie mal wieder in einem wichtigen Beratungsaspekt den Nagel auf den Kopf getroffen.
das ehrt mich ja besonders, da ich neulich in Ihrem Blog gelesen habe, dass Sie nicht mehr alles lesen 😉 Extra-Danke. LG Svenja Hofert
vielen dank für den artikel. ich konnte mich mit meinen ansichten weitgehend wiederfinden. wenn berufliche veränderungen dann bitte langsam. und lösungen lauern überall. wie ist es aber mit dem job. wenn man was neues machen will und älter ist als der normale auszubildende und auch älter als der normale bachelor student? dann bleibt eigentlich nur die selbständigkeit und einige ihk kurse um auf kurs zu kommen. oder die gesellschaft ändert sich und gibt leuten eine chance, ohne stromlinienförmigen lebenslauf und ohne einschlägige qualifikation.
Danke Frau Hofert für diesen erdenden Artikel. Ich befinde mich ziemlich an der von Ihnen beschriebenen Phase und finde mich sehr gut wieder.
Finde Ihren Artikel sehr differenziert und interessant. Ich vermute, dass viele Coaches zu Beginn Ihrer Tätigkeit einfach viel Schwung aus Ihrem eigenen Mut nehmen, dass Sie sich nun als Coach selbstständig machen, und tatsächlich auf Klienten auch mit dieser Motivation ansteckend, ja inspirierend wirken. Nur dann…reicht das eben nicht.
Ich selbst war zu Beginn meiner Coachingarbeit auch recht euphorisch, was die Perspektiven von Coachees anging. Viele, die ins Coaching kommen, sind ja tatsächlich interessante, vielseitige Leute. Nur: ich bin mittlerweile viel vorsichtiger geworden und schaue mit einer realistischeren Brille auf die Möglichkeit der Umorientierung. Oft liegt “das Bessere” nämlich ziemlich nahe, und in der Praxis können sich Leute dann tagelange “vision quests” in der Natur sparen. Ich finde, dass sich fast immer irgendein roter Faden in einem Werdegang finden lässt, allerdings liegt der nicht auf der Hand – ihn zu finden, das sollte ein Coach tatsächlich können. Und rote Fäden lassen sich oft ganz gut weiterspinnen.