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Trügerisches Bauchgefühl: Warum wir mehr auf den Verstand hören sollten
„Hören Sie auf Ihren Bauch,“ ist oft in Frauenzeitschriften zu lesen. „Was Sie spüren wird schon richtig sein“, argumentieren esoterisch angehauchte Coachs. Unterstützend wird gependelt oder gekniffen oder geklopft.
Angela Merkel hört nicht auf ihren Bauch. Deshalb gilt sie als uncool. Aus irgendeinem Grund mögen die Leute Menschen lieber, die sich hinstellen und sagen „so ist es, folgt mir!“ Solche Manager, die Ruckzuck intuitive Entscheidungen treffen, nennt man charismatische Leader. Sich lange beraten, recherchieren, abwägen? Kommt nicht so gut an. Merkel bekommt Schimpfe, weil ihre Entscheidungen so lange dauern.
Ich neige auch zum guten Durchdenken, selbst wenn ein Bauchgefühl schon da ist. Schön, wenn das Durchdenken den Bauch bestätigt, überflüssig macht es den Kopf meiner Meinung nach nicht. Manchmal schimpfen Dozenten und Leser mit mir, weil ich in meinem Buch „Am besten wirst du Arzt“ zu mehr Analyse auffordere. Ich möchte, dass junge Leute darüber nachdenken, wie sich Berufe entwickeln, bevor sie sich entscheiden. Das ist mir wichtig. Ich finde das auch nicht schwierig: Man muss einfach nur die Gegenwart fortschreiben. Dafür muss man sie kennen. Das fordert ein bisschen Recherche und Gespräche.
Genau dies würde viele überfordern, finden einige. Zu einem Interview zum Thema „Entscheidung für die richtige Berufswahl“ wollte eine Journalistin gerne eine lockerleichte Empfehlung, was denn die Berufe der Zukunft seien. „Nein“, sagte ich. „Das wäre unseriös. Sicher ist: Es wird auch kaum noch Berufe geben wie wir sie heute kennen.“ Zur Erläuterung nenne ich Beispiele: „Schauen Sie sich das Bäckerhandwerk an, das gerade dahinsiecht und sicher bald stirbt. Lebensmitteltechnologen haben das Ruder übernommen. Man kann sich ausrechnen, dass der Beruf des Bäckers in der heutigen Form maximal noch fünf bis zehn Jahre überlebt. Dazu muss man nicht in die Zukunft blicken, sondern nur die Entwicklungen der Gegenwart kennen und sie weiterdenken.“ Ich merke, dass die Journalistin am Ende der Leitung eine Krise bekommt, wahrscheinlich weil es Ärger geben wird, wenn sie mit solchen Rechercheergebnissen aus dem Gespräch mit mir zurückkommt. „Bitte, bitte sagen Sie doch, welche Jobs Zukunft haben! Bitte-bitte!“ fleht sie. Zähneknirschend ringe ich mir irgendwelche Kompromisse ab…
Wer Verstand fordert hat einen harten Stand, denn herauskommen leider eben keine einfachen Lösungen und keine Lösungen von der Stange. Hirnforscher Gerhardt Roth bestätigt im Buch „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten“, was mir der gesunde Menschenverstand und/oder die Werke von Jonah Lehrer eingeflüstert haben: Das Bauchgefühl ist trügerisch. Es ist besser, wenn Entscheidungen auf fundiertem Wissen basieren – dann können sie ruhig intuitiv sein. Roth sagt: Bauchmenschen sollten besser mehr denken. Und Verstandesmenschen dann dicht machen, wenn sie genügend Informationen haben, weil sie noch mehr Wissen auch nicht mehr weiterbringt. In dieser Überzeugung stehend, berate ich seit Jahren, ohne es bisher so genau gewusst zu haben, also hirngerecht.
Doch wo sind die Grenzen des Nachdenkens über Entscheidungen? Kleine Anekdote: Meine Familie suchte neulich abends ein gutes Restaurant in einer ostfriesischen Kleinstadt. Um den Markplatz herum hatten sich zehn Gaststätten niedergelassen. Ich hätte zur Entscheidung ins Internet geschaut, aber das funktionierte hier nicht. Ich argumentierte, dass die Wahrscheinlichkeit, das irgendeines dieser zentral gelegenen Restaurants gut sei, sehr niedrig sei, weil sich in einem solchen touristischen Zentrum niemand Mühe geben müsse. Geringe Rate an Stamm-, hohe an Laufpublikum… Ich riet, lieber in einsamen Gassen nachzuschauen.
Wollte die Familie aber nicht. Also lasen wir Speisekarten und sortierten die aus, die sich besonders fantasielos zeigten. Ich meinte, dass es ein gutes Indiz sei, wenn ein Restaurant besser gefüllt sei als ein anderes, allerdings nicht, wenn es dabei einen zentralen Blick auf den Hafen böte – dann zieht das Touristen an; solche, die gucken, aber nicht unbedingt gut essen wollen. Nach langer Diskussion deutete meine Mutter auf einen Restaurant mit der Auszeichnung „Feinschmecker 2010“. Irgendwie verdächtig kam mir das vor, doch halbverhungert gingen wir rein. Was soll ich sagen: Ein Reinfall. Wahrscheinlich haben sie den Koch nach der Auszeichnung rausgeworfen.
Wenn eine so einfache Entscheidung wie die der Wahl eines Restaurants so komplex ist und so viele Denkfallen beinhaltet, dann vielleicht demnächst doch wieder Bauch? Am nächsten Tag ließen wir den Hund entscheiden. Dort wo er am meisten zog, da zog es uns hin. Und es war ein (Zufalls-)Treffer. Ein weiterer Reinfall wäre auch keine Katastrophe gewesen.
Aber: Wollen wir Zufallstreffer in politischen Entscheidungen? Möchten wir uns darauf verlassen, dass Angela Merkel ein gutes Bauchgefühl hat, heimlich einen Hund entscheiden lässt oder ein Pendel, damit es bloß schnell geht? Möchten wir, dass der charismatische Manager in maßloser Selbstüberschätzung schon „weiß“, was richtig ist?
Wenn wir genauer darüber nachdenken, wohl nicht. Wir möchten, dass Merkel und der charismatische Manager Wissensmaschinen sind, die ALLE entscheidungsrelevanten Kriterien schon eingespeichert haben. Wir möchten Roboter!
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.
Sehr schöner Artikel! Vielen Dank dafür. Kahneman (http://www.geistundgegenwart.de/2011/12/das-gute-leben-intuition-wohlergehen.html) sagt: “Wenn es um viel geht, sollten wir unserer Intuition misstrauen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Qualität unserer Intuition mit der Wichtigkeit des gestellten Problems wächst.”
Und: “Tim Wilson hat gezeigt, dass Leute, die sich für ein Deko-Gegenstand entscheiden müssen, besser daran tun, ihren Impulsen zu folgen, als das Für-und-Wider abzuwägen. Sie waren später mit ihren Entscheidungen länger glücklich.”
Und: “Experten – solche, die genug Übung darin haben, die Muster in ihrer Umwelt zu erkennen – [treffen] bessere Entscheidungen, wenn sie ihrer Intuition folgen, als wenn sie große Analysen anstellen.” (Jetzt denken wahrscheinlich wieder alle: “Ach toll, na ich bin ja Experte in EVERYTHING, dann kann ich auch mit dem Bauch entscheiden!” Trugschluss!)
danke, Herr Dietrich, wir lesen die gleichen Bücher 😉 LG Svenja Hofert
Unser Bauchgefühl ist trügerisch. Ja. Unsere Gefühle sind zu einem großen Teil ebenso konditioniert und von unseren bisherigen Erfahrungen geprägt wie – unser Denken. Spätestens seit dem Konstruktivismus ist auch das keine Geheimnis mehr.
Mit meinem Blick auf die Welt würde ich zu Ihrem Bäckerbeispiel wohl sagen: dem Beruf des Bäckers wird nun schon seit Jahren sein sicherer Tod voraus gesagt. Was ich erlebe ist, dass hier und da sehr erfolgreich wieder Bäcker eröffnen. Bäcker, die sich spezialisieren. Öko. Vegan. Das erlebe ich in anderen Bereichen auch. Das was geht, das ist das Speziallistentum. Das Besondere. Das Exclusive.
Das ist ein Blick durch meine “Verstandes-Brille”. Ebenso geprägt durch mein Umfeld, meine Art und Weise zu denken, so wie Ihre Sicht auf den Bäckerberuf eben geprägt ist durch ihr Umfeld, ihre Art und Weise die Welt zu sehen.
Doch was tun, wenn wir uns weder auf unser Gefühl noch auf unseren Verstand verlassen können? Oder: war es denn jemals anders?
In letzter Zeit wird oft auf die Schwarmintelligenz verwiesen. Fragen Sie die anderen! Holen sie viele Meinungen ein!
Doch, hätte nur eine bahnbrechende Erneuerung stattgefunden hätten sich die Erfinder derjenigen auf die Schwarmintelligenz verlassen? – Wohl eher nicht. Und was nun?
Im Bwreich der persönlichen Entscheidungen bin ich immer gut damit gefahren meine nahes, mir positiv zugewandtes Umfeld in den Prozess mit einzubeziehen, und mich dann für das zu entscheiden was sich letzten Endes für mich “gut anfühlt”. In dem Wissen, dass ich mich eben auch täuschen kann, dass ich Fehler mache und das schlicht menschlich ist. Dass die Parameter, die mich heute zu einer Entscheidung bewegen können, sich im Laufe der Zeit ändern können. Und dann entscheide ich eben wieder neu.
Im Falle von Frau Merkel, die keine Entscheidungen für sich fällt, sondern für eine große Gemeinschaft würde ich mich jedoch freuen, wenn sie eben diese auch in ihre Entscheidungsprozesse einbeziehen würde. Und ob Frau Merkel nun lange nachdenkt oder aussitzt, das ist ja ein viel diskutiertes Thema.
Beruflich gesprochen: wer sich heute für einen Beruf entscheidet wird eh wissen, dass diese Entscheidung keine mehr “für’s Leben” ist. Die Welt verändert sich, die Parameter die heute für eine Berufswahl entscheidend sind können sich morgen schon ändern. Und die, die Entscheidungen treffen von denen viele Menschen betroffen sind, Chefs zum Beispiel, die tun sich gut daran sich mit denen, für und über die sie entscheiden, zu besprechen und diese in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. So, dass nacher alle sowohl ein “gutes Gefühl” haben, als auch vom Verstand her die Entscheidung nachvollziehen können.
Beste Grüße. Tanja Ries.
Liebe Tanja, Ries, freue mich über die tolle Ergänzung. Was ich ganz besonders wichtig finde: Ja, man sollte Perspektiven von anderen einholen, ganz besonders wichtig ist der interdisziplinäre Aspekt. Und da kenne ich Frau Merkel nicht gut genug, ob sie das wirklich ausreichend macht. LG Svenja Hofert