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Der Karrierecoach als Wundertüte: „Haben Sie nicht noch eine ganz andere Berufsidee für mich?“

Veröffentlicht: 22. Mai 2015Kategorien: Mindset und Entwicklung

ad269554-35b6-4ad9-9207-cc66f7c2a431„Haben Sie nicht noch eine ganz andere Berufsidee für mich?“ Diese Frage kennen die meisten Karrierecoachs. Meistens kommt sie am Ende einer Sitzung. Am Anfang bringt es viele Jung-Coachs und auch alte Hasen, die auf berufliches Coaching umsatteln, gehörig aus dem Konzept. Müsste ich vielleicht doch noch etwas wissen? Bin ich ein Hochstapler, weil ich nur 345 Lehrberufe kenne, 1.000 Studiengänge und 5.000 Berufsbilder? Bin ich falsch in diesem Job, weil ich nicht alles weiß? Und bitte: Wo ist meine Wundermedizin? Hilfe zu Selbsthilfe sollen Sie geben, haben Sie in der Coachingausbildung gelernt. Aber Wunder werden vom Kunden erwartet. So ein Mist. Ein paar Beispiele und mögliche Vorgehensweisen im Karrierecoaching.

Feedback nach Neuorientierung und Berufsorientierung kann so aussehen:

  • „Ja, das ist ja alles… schön und gut. Aber gibt es nicht irgendwo doch noch einen richtigen Beruf für mich?“
  • „Revolutionär neu ist das für mich nicht. Haben Sie nicht noch eine ganz andere Idee?“
  • „Ich dachte, da käme jetzt eine realitätsnahe Empfehlung raus. Ich muss schließlich 4.000 Euro netto (wahlweise ersetzbar durch höhere oder niedrigere Beträge) verdienen. Ich kann doch nicht von 2000 (wahlweise ersetzbar…) leben.“

So und so ähnlich kenne ich es aus unserer Praxis, und so und so ähnlich berichten es mir Karriereexperten.

Meist kommt so ein Feedback in Form einer Frage oder Bemerkung im Nachklapp, wenn der Klient bereits eine Lösung gefunden zu haben scheint. Dann schaut man sich die Lösung an und denkt „was, so einfach soll das sein?“ Es flackert Hoffnung auf, dass es doch noch etwas anderes, Besseres oder etwas mit weniger Anstrengung zu Erreichendes geben könnte. Es keimt Hoffnung auf, dass der Karrierecoach doch ein Wunderdoktor ist, der das Tikka Tukka Land des Arbeitsmarktes kennt. Dieses Wunderland, in dem man weder Ausbildung noch Kontakte und “böses” Social Media (“ist nicht mein Ding”) braucht und wo konkrete Berufe wie Äpfel an den Bäumen wachsen. Klar haben Sie in der Auftragsklärung deutlich darauf hingewiesen, dass Sie Hilfe zur Klärung bieten wollen und keine Lösung. Aber das wird bisweilen geflissentlich überhört.

Betrachten wir die verschiedenen Kundenfeedbacks einmal genauer:

  • „Ja, das ist ja alles… schön und gut. Aber gibt es nicht irgendwo doch noch einen richtigen Beruf für mich?“

Viele Kunden suchen nach Berufen. Sie wollen etwas, das einen Namen hat, gerade auch Akademiker, die nicht Lehrer, Jurist, Ingenieur oder Arzt sind, und das sind die meisten. Die Familie spielt bei der Berufssuche eine große Rolle. „Wie heißt das, was du machst?“ Eltern können mit dieser Frage ein Leben lang nerven. „Scrum Master“ können sie vielleicht noch gerade so akzeptieren, aber dass eine Arbeit gar keinen Namen hat, das weniger. Doch genau dahin geht die Reise: Menschen sind Mitarbeiter irgendwas. Sie sind zuständig für… Statt Berufen gibt es Rollen. Diese bieten viel weniger Antworten auf Fragen aus dem Umfeld. Das verunsichert.

Jemand, der diese Frage stellt, sucht also nach Identifikation, will sich an einem Begriff festhalten. Als Karrierecoach können Sie das thematisieren. Sie könnten zum Beispiel fragen: „Warum gibt nur ein Beruf mit einem Namen Identifikation?“ Und Sie könnten Vorschläge machen: „Ich sorge dafür, dass Menschen zusammenarbeiten“, hört sich vielleicht  besser an als „Mitarbeiter im Team Topfpflanzen“. Oder: Ich forsche, berate, trainiere, entwickle, prüfe, messe, gestalte, organisiere… Durch Herunterbrechen auf die aktive, verbale Ebene erreichen Sie schon viel: Definieren Sie Tätigkeiten. Und wenn der Kunde dann immer noch einen Beruf will, lassen Sie ihn einen Jobtitel erfinden, als eine Art Arbeitstitel.

„Wie würden Sie das nennen, was wir da gerade mit fünf Punkten beschrieben haben?“ Wenn nichts kommt, machen Sie Vorschläge.

  • „Revolutionär neu ist das für mich nicht. Haben Sie nicht noch eine ganz andere Idee?“

Sie als Karrierecoach wissen so gut wie ich, dass Ideen wachsen und reifen müssen. Und wer zu einem Karrierecoaching geht, hat oft schon gewachsene und manchmal sogar gereifte Ideen. Viele wollen nur, dass jemand sie pflückt. Das sind die einfachen Fälle. Andere wollen die Garantie, dass Ihnen jemand die Äpfel abkauft. Das sind die schwierigen.

In beiden Fällen ist es aber so: Schon lange beschäftigt man sich mit Alternativen. Im Gehirn sind sämtliche Karrierepfade ausgetreten. Wenn Sie neben diesen zum Beispiel den „Obstbauern“ platzieren, wird Ihr Gegenüber Sie entgeistert anschauen. Obstbauer mag revolutionär neu im Gedankengang des Kunden sein, aber er wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als für sich passend annehmen. Eben weil es neu ist und es dafür noch keinen Trampelpfad im Gehirn gibt. Neues kann man nicht theoretisch und im Kopf erschließen, man muss es erleben. Wenn also der Klient die Idee doch annimmt, so wird sie nur dann weiter reifen, wenn er praktische Schritte unternimmt und den Obstbauern erlebbar macht….  Manche Kunden verstehen es, wenn man Ihnen erklärt, wie ein Jobwunsch entsteht und welche Wege er im Gehirn nimmt, um Formen annehmen zu können – das sind die intellektuelleren. Andere interessiert das nicht, sie glauben an eine Art höhere Eingebung. Damit müssen Sie leben, wenn Sie selbst nicht an höhere Eingaben glauben (wie ich).

  • „Ich dachte, da käme jetzt eine realitätsnahe Empfehlung raus. Ich muss schließlich 4.000 Euro netto (wahlweise ersetzbar durch höhere oder niedrigere Beträge) verdienen.“

Es gibt immer wieder Beratungssuchende, die sich nicht vorstellen können, dass es auch akademische Jobs gibt, in denen man 1.000 oder 2.000 EUR netto verdient (letzteres kann 3.500 brutto entsprechen, ein Durchschnittsgehalt). Sie hätten ja studiert, und nicht etwa, um schlechter dazustehen als Erzieher, die ja offensichtlich schon wenig verdienen, sonst würden sie nicht streiken… Vielfach kommt ein beachtliches Wunschkonzert zusammen: Reisen kommen nicht in Frage. Um 17 Uhr muss Schluss sein. Und der Arbeitsplatz sollte auch in 10 Minuten erreichbar sein. Ich baue mit vielen Kunden am Anfang des Coachingprozesses Luftschlösser, die wir dann in eine dem “Budget” (Kenntnisse, Erfahrungen, Wert am Arbeitsmarkt etc.) angemesse Bauform bringen. Luftschlösser sind legitim und wichtig. Manche verfallen allerdings in Trotzhaltung: Nur so, und wenn es nicht geht, Frau Karrierecoach, sorgen Sie dafür!

Als Karrierecoach könnten Sie hier dem Klienten zurückspielen: „Lieber Herr X, lassen Sie uns doch mal die Rollen wechseln. Sie beraten mich. Ich sitze vor Ihnen und erwarte Wunder vom Arbeitsmarkt. Was würden Sie mir empfehlen?“

Es kann sein, dass Sie damit Bremsen lösen, aber auch, dass sich unbeliebt machen. Aber wer nur geliebt werden will, ist als Karrierecoach – sowie generell im Coaching – am falschen Platz.

Vom 18.-20.6. findet das nächste Seminar „Karriereexperte Professional“ mit Coachingphase statt. Vielleicht sind Sie dabei?

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

2 Kommentare

  1. Thomas 22. Mai 2015 at 11:46 - Antworten

    Wobei Erzieher eher bei 2000-2500 BRUTTO liegen und nicht Netto. (Die wenigsten werden so hoch gruppiert sein)

    Anzumerken wäre noch, Augen auf bei der Berufswahl. Als Bäcker wird man kein Millionär.

  2. Jost 21. Juli 2015 at 12:02 - Antworten

    Hallo. Schöner Artikel. Ich glaube, dass hier tatsächlich oft ein Wiederspruch in der Erwartungshaltung zu finden ist.
    Der Coachée erwartet Lösungen von dem Experten, schließlich kennt er den Markt. Der Verweis auf die Auftragsklärung führt hier häufig zu Unmut und Missverständnis, im Sinne von: “Warum sagen Sie es mir nicht, sie wissen es doch.”
    Wäre hier vielleicht sogar ein Coach geeigneter, der den Arbeitsmarkt nicht kennt? (Nur mal kleiner Anstoss).
    Ich arbeite selbst in der Karriereberatung und der Konflikt zwischen Expertenwissen und Neutralität als Coach ist ständiges Thema unserer Supervision.

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