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Warum die Familiengeschichte entscheidende Hinweise auf unsere Stärken und Lebensrollen gibt

Ich bin die Enkelin eines ehemaligen Dominikanermönches. Wer mir folgt, hat vielleicht gemerkt, wie ich mich stetig gewandelt habe. Immer mehr nähere ich mich philosophischen Inhalten und gehe weg von klassischen Themen aus Karriere und Management. Es wurde langweilig für mich, profan. Als ich eine junge Frau war, begeisterten mich Jung, Freud, Alice Miller, Erich Fromm und Arthur Köstler. Ich liebte Hermann Hesse und war sehr bemüht, möglichst alle Zusammenhänge dieser Welt zu verstehen. Aber dann entschied ich mich, meinen praktischen und unternehmerischen Neigungen zu folgen, die es in meiner Familie auch gab.
Wo ich auch hinschaue: Es sind die vorherigen Generationen, die den Takt und die Themen vorgeben, die Bildungsweg und Karrieren bestimmen – und auch das Wahrnehmen und emotionale Erleben von Stärken. Wie überrascht war eine Gruppe von naturwissenschaftlich geprägten Postdocs, als sie meine Lockerheit, Flexibilität, Spontanität und Fehlertoleranz erlebten. Kann man, darf man so sein wie diese Frau? Ist das wirklich eine Stärke? In meiner Welt war Experimentierfreude schon immer die Basis von allem. Es kommt aus meiner Familie. Es gibt dort wenig Perfektionisten.
In ihrem Weltbild war das “So-sein” bisher nicht verankert. Da war Fleiß, Anpassung und Gutsein-Wollen die “Stärke”. Wenn man darüber in die Diskussion kommt und einbezieht, was der Quell solcher Wahrnehmungen ist – nämlich die eigene familiäre und Peergroup-Prägung -, dann ist viel erreicht. Es würde auch der allzu dogmatisch geführten und von blinden Flecken auf allen Seiten geprägten New-Work- und Agilitätsdiskussion helfen, sich mehr um den gemeinsamen Nenner zu kümmern. Und zu dem eigentlich treibenden Gedanken zurückzukehren: Dem Gedanken, der der Entwicklung weiterhilft – und nicht die Position, die richtig oder falsch ist.
Die Einbeziehung des familiären Hintergrunds wird gerne und in Teilen – auch zurecht – medial verdammt. Bildungschancen müssen gleich sein, gar keine Frage. Ich möchte mit diesem Beitrag aber einen anderen Akzent auf das Thema legen und fragen: Liegt in der Historie der Familie nicht auch ein Schlüssel für das Verständnis eigener Stärken und Identität? Ist es deshalb nicht zentral wichtig, sich bei der Berufs- und der Selbstfindung damit zu beschäftigen?
Neuorientierung heißt oft: Zurück zu den Wurzeln – oder diese endlich abschneiden
Wir erleben, dass viele Menschen im Alter von 40, 50 Jahren zu ihren Wurzeln zurückkehren. Sie suchen Heimat, auch regional. Sie fahnden nach beruflicher Identität und merken dabei, dass es auch familiäre und kulturelle ist. Viele, die als erste in der Familie studiert haben, streben zurück nach Einfachheit, vielleicht dem Handwerk. „Es war so schön, meinem Opa zuzusehen, wenn er in seiner Werkstatt arbeitete“ – der Satz eines jungen Sozialwissenschaftlers hallt nach hin mir. Nur eines von hundert Arbeiterkindern promoviert, aber zehn von hundert Akademikern. Und wenn dieses eine in einer späteren Lebensphase vielleicht seinen Doktortitel beiseite legt, um eine Werkstatt zu übernehmen, was eigentlich weit unter dem Bildungsniveau liegt? Dann kann es sein, dass es schlicht zu seinen Wurzeln will.
Wir schauen zunächst fast pikiert auf solche Entscheidungen. Wie kann jemand seinen Abschluss so „wegwerfen“? Aber schadet die erworbene Bildung? Sicher nicht. Man muss das, was man gelernt und erfahren hat, doch gar nicht im Job einsetzen. Das wird in Zukunft sowieso immer schwerer möglich sein. In den USA macht derzeit ein Beststeller die Runde: „Up is not the only way“. Es geht darum, dass Karrieren mit Rauf und Runter normaler werden und wir solche Wege wertschätzen sollten. Oh ja!
Berufswahl wird bei uns einseitig auf Kompetenzen und intellektuelle Voraussetzungen bezogen. Aber nur weil meine grauen Zellen mitziehen, gibt es mir das noch keine berufliche – und also emotionale – Identität, das Gefühl von „das ist genau mein Ding, ich lebe mein Leben.“ Dies hat auch damit zu tun, dass wir eben NIE nur unser Leben leben. Es ist immer geprägt von anderen, vor allem aber von denen, mit denen wir am meisten verbunden sind und waren. Die entscheidende Frage ist, was wir bewusst annehmen oder anders machen und was wir unbewusst vermeiden oder suchen.
Die Berufsgeschichte der Ahnen prägt

Welche Rolle spielen die Berufe der Ahnen? Mindestens treffen Sie eine Aussage darüber, was emotional im Denken verankert ist – positiv wie negativ.
Wer bin ich und was ist davon meinen Ahnen zuzuschreiben? Es ist sehr erhellend, sich bei der Berufswahl und beruflichen Orientierungen im reiferen Alter mit der Berufsgeschichte der Familie zu beschäftigen. Ich finde das selbst für selbst reflektierte Teams eine sinnvolle Aufgabe. Zu verstehen, warum der Kollege anders ist – da hilft durchaus auch ein Blick auf seine Herkunft, natürlich auch die ethnische, kulturelle und regionale.
Welche Themen sind in der Familie verankert? Was hat das mit mir zu tun? Ich habe für meine Weiterbildung “Karriereexperte Professional” das Genogramm aus der systemischen Familientherapie etwas abgewandelt und mehrere „Ausbaustufen“ daraus gemacht. Da nenne ich “Berufogramm”. Es ist eine grafische Aufbereitung der Berufe von Mutter, Vater, Großeltern und auch Tanten und Onkel. Ja, auch die sind relevant, denken wir nur an den Song von den “Ärzten”: “Warum gehst du nicht zu Onkel Werner in die Werkstatt? Der gibt dir eine Festanstellung….”
Stärken sind nicht nur genetisch, sondern auch epigenetisch zu erklären
Ein Blick auf die Berufsgeschichte der Ahnen ermöglich auch eine tiefere Stärkenorientierung. Stärken entstehen durch eine Gen-Umwelt-Interaktion. Die Gene aber sind über mehrere Generationen von den Familienerlebnissen geprägt. Das heißt auch in den Genen steckt „Umwelterfahrung“. Das sind Erkenntnisse der Epigenitik. Diese sind leider längst noch nicht im Alltagswissen angekommen. Viele halten die Beschäftigung mit unseren Ahnen für spirituellen Quatsch. Uns wurde ausgetrieben, Elternberufe in den Lebenslauf zu schreiben. Zu recht, weil die Entscheider über diese Themen nicht angemessen reflektieren können. Dennoch sind die Lebens- und Berufserfahrungen unserer Ahnen wichtig für uns heute. Wenn es auch nicht mehr im Lebenslauf steht, im Kopf ist es präsent.
In jedem von uns sind die Erfahrungen unserer Verwandten oft wortwörtlich „begraben“. Das „Ich“ ist nie losgelöst von seiner Familie, Gesellschaft, Kultur und auch Generation zu sehen. Es trägt all das in sich. Deshalb lässt sich berufliche Orientierung und Neuorientierung durchaus ohne diese Aspekte denken – dann bleibt sie aber zudeckend und ist nicht entwicklungsfördernd in dem Sinne, wie ich es in meinen aktuellen Büchern „Hört auf zu coachen“ (Kösel) und „Psychologie für Berater, Coaches, Personalentwickler (Kösel) beschreibe. Sie unterstützt vielmehr den derzeitigen Entwicklungszustand. Das kann sinnvoll sein, ist es aber spätestens dann nicht mehr, wenn Unzufriedenheit entsteht.
Mein aus dem Genogramm entwickeltes „Berufogramm“ hat deshalb eben auch eine Ebene, die ganz praktische Gedankengänge auslöst: Wenn die Eltern Lehrer waren und auch die Generation davor niemals Berührungspunkte zu selbstständigen Tätigkeiten hatte, so werden diese implizit oder explizit mit Angst besetzt sein, mindestens aber wird Unkenntnis darüber herrschen, wie sich ein „freies“ Leben anfühlt. Dass das so ist, dazu gibt es empirische Belege. Unternehmerkinder gründen leichter und erfolgreicher.
Man kann sich nur bewusst für etwas entscheiden, was man kennt. Alles andere ist von System 1 (nach Kahnemann “schnellen Denken”), Stereotypen und Klischees, gelenkt. Dessen sollten sich alle, die mit Berufsorientierung zu tun haben, jederzeit bewusst sein.
Ein paar ergänzende Tipps:
Wenn Sie „Laie“ sind:
- Als beruflicher Neuorientierer malen Sie die Familien-Berufsgeschichte in Diagrammform auf. Sie können glückliche Berufslaufbahnen mit Plus und unglückliche mit Minus kennzeichnen. Eine nächste Ausbaustufe wäre es, die Themen der Familie hinzuzuschreiben. Worum ging es diesen Menschen? Ich entwickle gerade Lebensrollen-Karten als Ergänzung zum Stärken-Navigator. Lebensrollen sind selbst gewählte Identifikationen mit der eigenen gesellschaftlichen Aufgabe – das ließe sich auch als Berufung übersetzen. Ich verstehe diese aber durchaus als fließend. Sie können sich ändern. Und die “wahre” (für mich ist das eine reflektiert und bewusst konstruierte) Lebensrolle zu entdecken, braucht es vor allem…Lebenserfahrung.
Wenn Sie mit jungen Menschen arbeiten:
- Berufscoaches, die mit jungen Menschen arbeiten, sollten die Familienberufe einbeziehen, warum nicht auch die der Großeltern. Selbst die Region prägt, in welcher Art und Weise kann man auch mit jungen Leuten diskutieren.
Es sagt viel darüber aus, was ein junger Mensch sieht und gesehen hat – und was nicht. Auch die Bewertungen der Eltern fließen ein. Die meisten Eltern sagen heute, “mein Kind kann tun was es will”. Das stimmt unter der Oberfläche meist nur sehr bedingt. Die (Fremd-)Steuerung erfolgt über die Emotionen, nicht über Worte und Handlungen. Wer sein Kind in eine Studienberatung mit „Testbatterien“ schickt, will (emotional betrachtet) ein Problem lösen und zwar oft mit viel Geld. Er geht nicht in die Auseinandersetzung mit tieferen Themen. Diese Auseinandersetzung könnte aber helfen, die Ich-Entwicklung zu fördern (hier Hintergrundartikel und Video). Denn letztendlich ist eine Entscheidung auf Basis von Tests eine Entscheidung im von mir so bezeichnen „Richtig-Modus“ – oder die Suche danach. Der Tests übernimmt die Funktion der Gesellschaft. Wenn „er“ als „neutrale Instanz“ sagt, Jurist passt zu mir, wird er schon richtigliegen – so die Annahme, die von Psychologen, die auf wissenschaftliche Methodik gedrillt sind gern gestützt wird. Damit ist die Auseinandersetzung mit den tieferen Schichten des Bewusstseins vertagt. Das kann sinnvoll sein, ist diese – wenn nicht in der Familie oder Schule früh gefördert – doch oft schmerzlich und eben alles andere als einfach. Insofern schätze ich den aktuellen Trend sehr, dass die Psychologie jenseits der Universitäten wieder mehr ins Philosophische zurückkehrt. Die Philosophie nämlich hilft bei der Menschenkunde ist mehr als die wissenschaftliche Psychologie mit ihren statistischen Verfahren.
Wenn Sie mit berufserfahrenen Personen in der ersten oder zweiten Neuorientierungsphase nach meinem Lebensphasenmodell arbeiten:
- Karrierecoachs, die mit beruflicher Neuorientierung zu tun haben, sollten es ebenso wagen, in die Familiengeschichte zu tauchen, natürlich nur, wenn der Klient dies wünscht. Dazu muss man aber mitunter auch diese Zusammenhänge erst einmal bewusstmachen und erklären. Ich erlebe oft, dass man erst beim Aufmalen merkt, dass dieser Zusammenhang überhaupt besteht. Auch die Geschwisterberufe und –lebenswege sagen einiges aus. Ist es doch so, dass Geschwister sich voneinander deidentifizieren, also sich oft an einem Merkmal stärker abgrenzen. Ist der eine vielleicht den Weg des Vaters gegangen und Uni-Professor geworden, hat es den anderen möglicherweise in die Praxis gezogen. Das sagt viel über Familiendynamiken aus – aber auch über Stärken, die einer Familie gemeinsam sind.
Immer wieder werde ich gefragt, ob man solche Themen den wirklich in ein Berufscoaching einbringen kann. Ich meine: Ja, wenn der Coachee stabil und gesund ist und der Coach genügend „Menschenkunde“ hat. Wenn ein Vertrauensverhältnis besteht und der Klient den Mehrwert erkennt. Indes gibt es auch viele Situationen, in denen das Bewusstsein für Familie als Hintergrundrauschen genügt.
Wenn Lehrer erkennen würden, dass es sinnvoll ist, Praktika in Bereichen zu fördern, die nicht familienspezifisch sind. Wenn Eltern begriffen, dass so ein Praktikum so wie auch weitere Berufserfahrungen vor allem dem Erleben dienen und über das Erleben dem Finden einer vielleicht auch bewusst familienfremden Identifikation, wäre viel gewonnen. Wenn Personalabteilungen diese Dynamiken sähen und ihre Kompetenzmodelle weglegen würden, wenn sie Selbsterkenntnis und Selbstfindungen fördern würden – auch wenn das bedeutet, dass ein Mitarbeiter nach einer gewissen Zeit vielleicht auch geht. Nach Hause.
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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.
Sehr interessant, passt in das Themenfeld der Haltestrategie für Jugendliche in der Region.
Exzellent, insbesondere wenn diese Art von Begleiten für nicht Deutsche den kulturellen Hintergrund berücksichtigt
Auf alle Fällle gehört diese Art einer Vertiefung seines persönlichen Werdens, der eigenen Biografie und auch
der vorherigen Generationen zu einer sehr sinnvollen Arbeit und Reflektion des Selbstverstehens.
Hierfür ist es gut sich auch mit der Genogramm – Arbeit beschäftigt zu haben.
Und es ist wichtig die Biografie der vorherigen Generationen eingebunden in Kontexte zu verstehen.
Oft ist es gar nicht der Beruf an sich, der z.B. Motive und Talente zeigt.
Die Menschen, die die Weltkriege miterlebt haben, waren alle traumatisiert. Die Generation ihrer Kinder, die selbst den Krieg miterlebt haben oder auch die Generation der Kinder , die in den 50iger/60iger geboren wurden, sind in einer völlig traumatisierten, dissozierenden Gesellschaft aufgewachsen.
Die daraus entstehenden psychischen Störungen oder auch charakterlichen Besonderheiten, beeeinflussen noch heute viele, auch junge Menschen. ( Stichworte Störungen im Bereich Identität, Ich Struktur, Umgang mit Gefühlen, Bindungsverhalten etc., auf grund der massenhaften Erscheinung ist oft in Deutschland eher das pathologisch unnormale normal geworden).
Wenn man sich also seine Abstammung anschaut, dann sollte man tiefer schauen, als nur auf Berufe.
Was waren die Kontexte? Was waren präferierte Beziehungen und warum? Was waren Hobbies, was wurde in der Freizeit engagiert betrieben? Welche Traumatisierungen haben möglicherweise Berufswünsche verändert?
Ich kenne z.B. zwei Fälle, wo die Betroffenen nach dem Krieg Theologie studiert haben und Pfarrer geworden sind, was niemand in der Familie verstanden hat, da sie eigentlich als junge Menschen vor dem Krieg ganz andere berufliche Ziele angestrebt haben. Aber das Gefühl ( vielleicht auch Schuldgefühl), als fast einzige überhaupt überlebt zu haben, während alle anderen gefallen sind, hat etwas in ihnen verändert. Vielleicht auch jenseits von Gentik und Epigenetik.
[…] erklärt unsere eigene Historie auch manche scheinbar irrationale (Berufs-) Entscheidung. (https://www.svenja-hofert.de/mindset/warum-die-familiengeschichte-entscheidende-hinweise-auf-unsere-…😉 Wie auch Svenja Hofert auf ein Buch und Thema in ihrem Artikel hinweist, nachdem nicht nur der […]