Die Persönlichkeit eines Menschen ist komplex. Komplexität ist unbeliebt. Wir wollen sie bekämpfen, den Wald lichten bis nur noch drei, vier Bäume darinstehen. Dann kann man Konturen erkennen. Viel wurde dabei aber auch abgeholzt. Persönlichkeitstests sind Holzfäller – sie helfen, den Wald zu lichten, den Menschen zu vereinfachen. Sie unterstützen dabei, Worte zu finden für das „so bin ich“, vielleicht nutzen sie Farben, die die eigene Persönlichkeit bunt machen. „Ich bin ein Roter, ein Grüner, ein Gelber“. Das ist hilfreich für alle, die sich zum ersten Mal bewusst werden, dass es Unterschiede überhaupt gibt. Vor allem, wenn das dahinterliegende System einfach ist, weshalb vor allem die plakativen Tests bei Laien sehr beliebt sind, etwa MBTI® und DISG®. Auch mein Stärkentest ist fraglos eher leichte Kost.

Girl squinting at youDarüber wiederum wettern die Psychologen, die wissenschaftliche Gütekriterien nicht ausreichend beachtet sehen. Gern weisen sie auf den Barnum-Effekt ihn, um Kritik an einem Persönlichtkeitstest zu üben. Dieser bezeichnet die Tendenz von Menschen, mehr oder weniger allgemeingültige Aussagen anzunehmen und sich täuschen zu lassen. Etwa von den Aussagen der Astrologie, die einer Waage ästhetisches Bewusstsein und Intellekt unterstellt und einem Fisch kreative Tiefe. Ich fühle mich erkannt, weil es so zutreffend scheint. aber gleichzeitig allgemein genug ist, dass für jeden etwas dabei ist. Vielleicht identifiziere ich mich so, dass ich mich danach zu verhalten beginne. Und bestätige ich mich selbst. Alles eine große Täuschung?

1. Blinder Fleck: Der Barnum-Effekt oder: eine Täuschung kann nur sein, was jemand als Täuschung definiert

Ich frage mich, warum das Auftreten des Barnum-Effekts so verteufelt wird. Ist es nicht gut, wenn jemand etwas benennen kann und sei es nur seine Eigenschaften als Waage als treffend identifiziert? Wenn etwas dabei hilft, Worte für sich selbst zu finden – und kann es dann überhaupt Täuschungen geben? Die Frage muss man mit „nein“ beantworten. Denn schon das Wort Täuschung ist eine Täuschung. Eine Täuschung kann nur sein, was jemand als solche definiert und/oder auch als solche annimmt und in Folge ansieht.

Auch die beiden Pole Introvertiert und extrovertiert können nur durch Definition als Pole bestehen. Es müssten aber gar keine Pole sein, man könnte sie verbunden sehen, als fließend oder jeden Tag anders. Diese Differenzierung macht den Wald wieder dichter und ist eher etwas für fortgeschrittene Persönlichkeitsspaziergänger; für den Einstieg ist es erst mal ganz gut, sich überhaupt zu finden, die eigene Schublade aufmachen zu können. „Ich bin ein INTP (ENFJ oder was auch immer)“ kann das Leben vereinfachen. Es kann mit anderen Menschen verbinden, Gesprächsgrundlage sein, ja, sogar Identifikationshilfe. „Ich bin ein Helikopter“, – vielen hilft das. Vielleicht könnte es auch anders heißen, vielleicht ist das Konstrukt nicht ganz sauber. Ist das schlimm? Im Grunde kann es nur schlimm finden, wer an den einen Weg nach Rom glaubt, also an Wahrheit, die Domäne der Wissenschaft ist. Für diese Menschen sind wissenschaftlichen Gütekriterien gemacht. Auch das ist nicht Schlechtes im Sinne von Begrenzendem – so lange man andere Wahrheit daneben bestehen lassen kann.

2. Blinder Fleck: Sichtweise als Messinstrument anstatt als Kommunikations- und Entwicklungshilfe

Persönlichkeitstests sind für mich ein Kommunikations- und Entwicklungsinstrument. Wenn mehr Testentwickler dazu kämen ihre Entwiclungen so zu deklarieren, anstatt sich Wissenschaftlichkeit zu erkaufen und Normgruppen und Daten zu verdrehen, damit die perfekte Wahrheit modelliert wird, wäre vielen gedient. Der Nutzer könnte selbst entscheiden, ob er annimmt, was ihm vorgesetzt wird. Wissenschaftlichkeit verschüchtert auch. Da bekommt er die „Diagnose“, beispielsweise „niedrige Gewissenhaftigkeit“ zu haben und neigt fortan dazu, diese in sein Selbstbild zu integrieren. Er beginnt sich zu vergleichen und schneidet vor sich selbst schlecht ab. Ohne diesen Stempel einer konstruierten Ernsthaftigkeit durch Wissenschaftlichkeit würde er viel freier mit dem Ergebnis umgehen können.

3. Blinder Fleck: Anspruch für einen zu großen Gültigkeitsbereich

Allerdings ist die Akzeptanz als Kommunikations- und Entwicklungsinstrument schwierig für Menschen, die nach Wahrheit suchen und sich an etwas festhalten wollen. Die nach vollumgänglichen Inhalten suchen, der All-Inclusive-Persönlichkeitsbeschreibung. Die Definition „Intelligenz ist das, was ein Intelligenztest misst“, die ich noch aus dem Studium in den 1980ern kennen, hat mir rückblickend sehr gut gefallen, da die Begrenzung und Bedeutungsgebung hier integriert ist. In neueren Psychologiebüchern lese ich Dinge wie „Intelligenz ist Bildungsfähigkeit“ und das missfällt mir, denn es liegt eine viel stärkere Wertung darin. Wenn man schon unbedingt wissenschaftlich testen will, dann bitte mit Sinn für die blinden Flecken. Was bitte ist Bildung? Das, was wir heute in der Schule und Uni vermitteln? Darüber kann man sich nun wirklich streiten

„Ich bin eben so“, sagen viele. Persönlichkeitstests festigen ihre ohnehin schon statische Weltsicht. Da kann der Introvertierte sich schön in seine Komfortzone zurücklehnen und weiterhin das Präsentationstraining ablehnen. Nicht berücksichtigt ist eben auch die vertikale Persönlichkeitsentwicklung, die ich mit der Ich-Entwicklung nach Loevinger hier vorgestellt habe. Niedrige Gewissenhaftigkeit in den Big Five oder auch Kreativität, also hohe Offenheit für neue Erfahrungen, kann sich auf verschiedenen Stufen völlig unterschiedlich auswirken und zeigen. Auch nicht alle, die 12 Punkte für den “Helikopter” in meinem Stärkentest haben, sind sich ähnlich. Je weiter die Ich-Entwicklung, desto eher wird die Person die verschiedenen Themen, die sie überfliegt, integrieren und dazu Stellung beziehen können. Ja, Psychometriker mögen argumentieren, dass Persönlichkeit relativ stabil ist – sie sehen aber nur vertikale Eigenschaften, nicht deren Ausprägung.

5. Blinder Fleck: Begrenzungen schaffen anstatt sie aufzuheben

Indem ich etwas benenne, gebe ich ihm Bedeutung. Indem ich diese Bedeutung annehme, integriere ich sie in mich selbst und vielleicht sogar mein Leben. „Ich bin introvertiert“ kann dann zu einem Lebensgefühl werden und der Identifikationsbildung auf die Sprünge helfen. Es kann aber auch zu einer Begrenzung werden. „ich bin ein INTP“ oder ein „AP2“ – was auch immer: es wird einem etwas zugewiesen, dass Grenzen um einen selbst zieht. Mich hat bei den Persönlichkeitstests gewundert, dass gerade besonders entwickelte Menschen oft sehr mittig sind. Einige haben immer wieder andere Testergebnisse, was jeder Retest-Stabilität widerspricht. Mir hat mal ein wissenschaftlicher Testentwickler gesagt, das spreche für eine nicht ausgereifte Persönlichkeitsentwicklung, ein Schwanken im “wer bin ich eigentlich?” Aber spricht dieses Schwanken nicht gerade für eine Auflösung von Grenzen? Ich glaube deshalb, das Gegenteil ist der Fall. Es könnte sein, dass viele in postkonventionellen Entwicklungsstufen gar nicht mehr richtig „testbar“ sind. Sie können unterschiedliche Rollen einnehmen und zeigen variables Verhalten. Viele Ich-Suchende kommen mit Testergebnissen zu mir, die sie am Ende nur begrenzen. Sie fühlen sich anders, aber sind mit dem Anderssein noch nicht in Harmonie. Sie suchen eine Erklärung in Tests und merken, dass sie sie dort nur in Ansätzen finden. “Ich bin viel mehr als ein Test”, ist eine ganz wichtige Erkenntnis auf dem Weg zu sich selbst.

In meinem Buch agiler Führen habe ich verschiedene Testverfahren Ich-Entwicklungsstufen zugeordnet. Mein StärkenNavigator funktioniert übrigens auf allen Stufen, da die „Fallhöhe“ angepasst werden kann.

Hier eine etwas reduzierte Tabelle dazu.

  Ziel der Stärkenentwicklung Passende Tests
E4 (gemeinschaftsbestimmt) Wahrnehmen und benennen von Unterschieden DISG® und einfache Verfahren
E 5 (rational) Wahrnehmen der eigenen Stärken und der von anderen MBTI® und differenzierte Verfahren
E 6 (eigenbestimmt) Wahrnehmen von Antreibern für eigenes Verhalten und das der anderen MSA® und Motiv-Tests
Ab E7 (relativierend) Dialektisches Integrieren verschiedener (auch widersprechender) Anteile, Auflösen von Begrenzungen MSA®, IE®-Profil

 

 

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.

3 Kommentare

  1. […] erreichen. Potenzialanalysen, können dazu beitragen verborgene Talente zu identifizieren, ebenso Persönlichkeitstests – aber auch diese können blinde Flecken haben. Und manch ein Personalentscheider verlässt sich einfach auf seine vermeintlich gute […]

  2. tue 26. Oktober 2016 at 9:24 - Antworten

    Nach drei kommt fünf? Wo ist der vierte Fleck?

  3. jenachdemer 9. August 2020 at 20:49 - Antworten

    Ja wo ist der 4. Fleck geblieben

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