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Familie: Wie unsere Verwandtschaft das Berufsleben prägt, wie wir uns befreien

Kürzlich habe ich mit meinem 15jährigen Sohn seinen Lebenslauf überarbeitet, das bleibt jetzt bitte unter uns, dass ich da eingegriffen habe. Wir haben eine Rubrik erfunden, die haben wir „familienbedingte Lebenserfahrung“ genannt. Da haben wir reingeschrieben, was man in der Schule nicht lernt, und das ist das meiste. Seit 20 Jahren sind Elternberufe im Lebenslauf verpönt. Auch über Geschwister schreibt man nicht mehr. Zu Recht. Wenn da steht „Mutter, Hausfrau“ und „Vater, Ingenieur“ macht das etwas mit den Lesern. Es wirft eine völlig subjektive, nicht-databasierte Assoziationsmaschine an. Vielleicht denken wir an einen spießigen Vorstadthaushalt, vielleicht an Familienidylle. So oder so sind wir voreingestellt. Doch auch wenn Familienberufe nichts im Lebenslauf zu suchen haben – wie Fotos und Namen, also weitere Hinweise auf soziokulturellen Status -, die Familie prägt uns – auf fünffache Weise. Damit wir „Selbst“ werden, sollten wir das erstens wissen und zweitens loswerden. Spätestens bis 50 😉
1. Berufsentscheidungen sind meistens für oder gegen die Familie, sollten aber besser frei davon sein
Der Papa Kaufmann, die Mutter Lehrerin: Das kennen wir, das spiegelt unsere Lebenswelten. Selbst wenn wir dann nicht den Job der Eltern ergreifen, handeln wir in Kenntnis der Eltern-Arbeitswelt (en). Wir entscheiden uns dann eben dagegen. Ja oder nein – strukturell kein Unterschied. Er basiert darauf, dass wir ein Richter oder Künstlerleben kennen oder nicht. Berufsentscheidungen finden deshalb nur in den seltenen Fällen jenseits der eigenen Familienkultur statt. Aber auch dann oft nur im vertrauen Umfeld – dem was wir aus dem Fernsehen und dem Internet “kennen”. Da können die Eltern alle Freiheiten lassen, die meisten jungen Menschen bejubeln nur vordergründig die Freiheit, und suchen in Wahrheit nach neuer Zugehörigkeit. Eine Zugehörigkeit, die Familie oder nicht-Familie heißt, aber recht wenig mit uns zu tun haben. Deshalb sollte man sich Zeit nehmen, durch die Gegend reisen, sich ausprobieren, öfter wechseln, neue Umfelder suchen. Die Tochter einer Bekannten kam völlig zufällig in die Pathologie und fing Feuer. Nie im Leben wäre sie auf diese Berufsidee gekommen. Und keiner hätte sie darauf gebracht. Sie war hat ihr Familien-Gepäck deshalb früh hinter sich gelassen.
2. Der Bildungsstand schreibt sich über Generationen fort, das kann nur die Politik in den Griff bekommen
Immer wieder gibt es Berichte von Arbeiterkindern in Zeitschriften wie „ZEIT“, die ihr Arbeiterkind-Sein auch 20 Jahre später noch spüren. Ich bin kein Arbeiterkind, aber mir ist sehr klar, dass ich meine bürgerliche Prägung ebenso nicht abstreifen kann. In den 1970er und 1980ern, als ich Abi gemacht habe, war zwar die Abi-Quote ungleich niedriger, die Systeme aber durchlässiger. Hauptschule war kein Stempel fürs Leben. Letztes Jahr erzählte mir ein Österreicher von seinen Begegnungen mit der deutschen Lebenslauf-Interpretations-Unkultur. Er hatte arglos „Hauptschule“ in den Lebenslauf geschrieben. Die ist in Österreich ein normaler Weg zur Matura, bei uns hat sie zwischenzeitlich das Image eines Looser-Sammelbeckens. Bildung sollte für alle sein, wir müssen alle gleiche Chancen geben. Erst recht, wenn sie schon von Haus aus ungleich sind. Welche Kinder bekommen den Musikunterricht, der die Intelligenz fördert? Wer kommt früh in Berührung mit Philosophie? In welchen Haushalten können Eltern auch noch die Integralrechnung nachvollziehen? Wenn ich könnte, würde ich das Bildungssystem ändern. Es ginge mir auch um Informatik, aber ich würde vor allem freies Denken und Argumentieren, Fantasie, Philosophie und Ethik zu Pflichtfächern machen. Daneben würde ich ein Mindestalter für Lehrer verlangen und eine “Reifeprüfung”. Musterlösungen, die jegliche Kreativität töten – stellen Sie sich vor, heute gibt es Musterlösungen für den Aufbau einer Argumentation, was ist DAS bitte!? – würde ich abschaffen und Lehrer stattdessen in Selbstkenntnis und Urteilsheuristiken schulen.
3. Der emotionale Stil formt sich in der Familie, aber wir können ihn ändern
Es sind oft nicht die Talente, die den Unterschied zu machen. Es ist die Art und Weise, mit dem Leben umzugehen. „Wie denkt jemand?“ ist dabei eine viel entscheidendere Frage als „was denkt er“. Die Neigung zu Melancholie, der Hang zum Nachdenken, sind ebenso wie ein sonniges Gemüt erblich oder werden früh geprägt. Wir entstehen in einem Pingpong-Spiel aus biologischer und Umwelt-Prägung, wobei die Umwelt-Prägung eine Menge ausgleichen könnte, von dem was die Biologie vorgibt. Richard Davidson hat mit seinen Forschungen über den emotionalen Stil das vorherrschende statische Vorstellung von Persönlichkeit gründlich erneuert: Wir können uns von familiären Prägungen befreien, wenn wir uns dafür entscheiden. Wir können unser Gehirn in eine neue Richtung trainieren, wenn wir das wollen.
Wir kommen auf die Welt als ein weißes Blatt Papier. Es ist Papier, und die Inhaltsstoffe sind klar, die Grammatur, die Prägung. Das ist mein Bild für Heratibiliät. Was draufsteht, bestimmen die anderen, das Umfeld. Einschließlich aller Lebensinterpretationen: Nennen wir uns kreativ oder unkreativ, bezeichnen wir uns als Kopf- oder Bauchmenschen? Oft sind es hinderliche Sätze, die unsere Familie auf unser Papier geschrieben hat. Sätze, die wir später mühsam löschen müssen, damit Platz für neues entsteht und wir wieder das Papier sein dürfen, das wir waren.
4. Der Blick auf Stärken begrenzt unsere Talente, aber wir können ihn weiten
Was erkenne ich als förderungswürdig? Was schätze ich? Der eine hat eine Präferenz für das Nichtkonventionelle, Freidenken, Ungewöhnliche, der andere für das Konventionelle, sich an Vorgaben haltende, Traditionelle. Die eigene Präferenz überträgt man. Nicht ohne Grund heißt es, das Feedback mehr über den Feedbackgeber aussagt als über den Feedbacknehmer. Wir denken nicht, sondern urteilen über Talente und Stärken von anderen. Wir tun das schon, indem wir einige dieser Stärken als solche erkennen und andere nicht. Wir loben für das eine Verhalten; für das andere nicht.
5. Die Schatten der Vergangenheit verfolgen uns, aber wir können sie loswerden
Welche Tabus herrschen in Ihrer Familie? Über was spricht man nicht? Was sind Themen, die Generationen überdauern? Carl Gustav Jung hat den Begriff des Schattens geprägt. Schatten sind unsere verdrängten Anteile. Sie leben unter dem Teppich. Oft sind sie von größter Symbolik. Ich spüre noch immer das Kruzifix im Zimmer meiner Urgroßmutter, die ich nie kennengelernt habe. Sehe übergroße Bücher.
Lebensthemen ergeben sich oft aus der Familienvergangenheit: Geld horten/Geld verprassen, Ordnung halten/Unordnung leben, Leben jetzt/Leben morgen, Angepasstsein/Unkonventionell, gebildet/ungebildet sein, Dasein/Abwesenheit, Zuhause/Auf Reisen. Diese Lebensthemen werden uns oft erst in einer späteren Lebensphase bewusst, mit 40, 50 Jahren, wenn wir die Schatten endlich unter dem Teppich hervorholen wollen, um in uns aufzuräumen. Dann sehen wir nicht mehr nur unsere persönlichen Muster, sondern die der Familie, unserer Kultur und unserer Zeit. Wir erkennen Gegensätze und Verbindungen. Dadurch kommen wir endlich zu uns selbst. Und meist auch beruflich zu etwas Neuem, das das Alte entweder integriert oder eben außen vorlässt. Nur diesmal bewusst. Und damit können wir wie der Bär auf dem Foto endgültig aus dem beengenden Familienkoffer klettern, der uns geprägt hat. Und den Koffer vielleicht sogar liebevoll betrachten.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.
Liebe Frau Hofert,
danke für diesen schönen Artikel! Und den schönen Schluss: Ich lerne so langsam, dass das liebevolle Betrachten der Schlüssel sein kann, damit Berufsentscheidungen wirklich frei und unabhängig getroffen werden.
Herzliche Grüße
Dagmar Dörner
Liebe Frau Dörner, danke Ihnen auch für das Feedback. Ich mag Ihren “innenhui”-Blog. Ja, und das ist jetzt klar eine familienbedingte Präferenz für das Kreative 😉 LG Svenja Hofert
Hallo Svenja,
ein schöner Artikel. Ohne selbst Kinder zu haben, verstehe ich das Thema doch stark aus der Perspektive des Kind seins. Der Druck familiärer seits ist bei vielen ein Problem.
An der Stelle “Musterlösungen für den Aufbau einer Interpretation” musste ich leicht schmunzeln, denn es ist wahrlich lächerlich. Ich erinnere mich an Zeiten, an denen Interpretationen im Deutsch-Unterricht vom Lehrer zerrissen wurden, weil die Interpretation “falsch” war. Kreatives Denken – Fehl am Platz.
Aber Lehrer sind auch nur Menschen.
Beste Grüße
Deniz
Mein großes Problem bei der Berufswahl ist es, dass ich emotional an meinen Arbeitgeber gebunden bin. Das liegt einfach daran, dass ich ein sehr gutes Verhältnis zum Chef habe. Ich würde jedoch gerne meinen Job langsam wechseln. Kannst Du mir sagen, wie ich das am Besten angehen sollte? Die Verdienstchancen (Mittelstand und schlechte Konjunkturphase) sind wirklich nicht gerade gut und ich würde in der Industrie deutlich besser verdienen.