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Ich-Projektionen: Wenn Menschen auf einem Auge blind sind

Veröffentlicht: 5. Dezember 2015Kategorien: Psychologie

Die Herren Putin und Erdogan zeigen der Welt, wo der Hammer hängt. Sie offenbaren eine Charaktergemengelage die manch einer als primitiv empfinden könnte. Denn trotz Intelligenz und hoher Bildung wollen beide nur eins: Gewinnen, Recht haben, den anderen besiegen. Die andere Seite der Medaille heißt für sie Unterwerfung – etwa den diplomatischen Zwängen. Solch politische Rachefeldzüge zweier weitgehend Humor- und Selbstkritikbefreiter Menschen kommt anders sozialisierten und entwickelten Menschen irritierend fremd vor. Für rationale Menschen schwer fassbar ist gemeinhin auch die Tatsache, dass sich Intelligenz mit Dummheit paaren kann. So jedenfalls sehen sie das, die nordwesteuropäisch sozialisierten Friedensbürger, die man aus anderer Perspektive bisweilen auch als Sozialromantiker begreifen könnte.

egg-583163_1920Beide Herren sind das derzeit wohl prägnanteste Beispiel für eine Ich-Projektion auf Leader-Ebene – also einfach ausgedrückt: für die Holzhammermethode. Dabei wird die eigene Weltsicht einseitig positiv überhöht, während der andere Pol abgewertet, ja negiert wird. In der Politik scheint das gefährlich mit Blick auf eine ohnehin schon aufgeheizte politische Lage.

Projektion blockiert Persönlichkeitsentwicklung

In einem Unternehmen behindert eine solche Ich-Projektion bei Führungskräften Weiterentwicklung der Mitarbeiter, blockiert Innovationen und degradiert Diversity zu einem Lippenbekenntnis.

Ich will Ihnen das an einigen Alltags-Bespielen in der Top-down-Perspektive zeigen:

  • Ein Manager, der Qualität zum Prinzip ausruft, könnte Ordnung und Detailorientierung höher bewerten als die jeweiligen Gegenpole Flexibilität und Blick auf das große Ganze. Er könnte sagen „weshalb ist diese Schraube locker, fehlt das Komma, ist der Punkt rot und nicht grün“ – und sich so an minderwichtigen Themen festbeißen.
  • Eine Führungskraft, die praxisorientiert denkt und handelt, könnte eine eher abstrakt-konzeptionelle Herangehensweise als gestelzt und übertrieben betrachten. Sie könnte sagen „Warum haben Sie das so kompliziert gemacht. Können Sie nicht einfacher denken?“ Sie würde nicht erkennen bzw. anerkennen, dass die Einbeziehung theoretischer Gedanken notwendig ist, um praktische Ableitungen zu treffen.
  • Ein Leiter, der Selbstbestimmung als Prinzip begreift, könnte Menschen, die danach streben, Teil des Ganzen zu sein, als abhängiges, unterwürfiges Volk sehen und entsprechend behandeln. Er könnte sagen „warum organisiert ihr euch nicht endlich selbst und nimmt euer verdammtes Leben in die Hand?“

Aber es geht auch Down-Top:

  • Mitarbeiter, die die Chefrolle mit starker Führung und klaren Ansagen verbinden, könnten eine Führungskraft, die Selbstverantwortung stärken möchte als Schwächling sehen, der sich nicht durchsetzen und nichts entscheiden kann.
  • Mitarbeiter, die rational denken, könnten einen eher spirituellen, an höheren weltverbessernden Zielen ausgerichteten Manager wie auch Kollegen als abgehobenen Spinner ansehen und abtun.

Beispiele von Ich-Projektionen finden Sie überall und jeden Tag. Niemand ist frei davon, Menschen, die sich von einem selbst in wesentlichen Punkten unterscheiden, abzuwerten. Diese Abwertung ist oft besonders emotional bei tief verankerten Themen, die mit der Familiengeschichte verzahnt sind. Ein Beispiel ist weibliche Unabhängigkeit: „Man hat als Frau unbedingt unabhängig zu sein, immer auf der Hut, muss seine eigene Autonomie zu wahren“. So indoktriniert, werden diese Frauen kaum Frauen respektieren, die sich in eine Abhängigkeit begeben.

Anderes Beispiel: Man hat als Mann Stärke zu demonstrieren und Macht zu zeigen, weil das Gegenteil dazu führt, dass man als lächerlicher Witz wahrgenommen wird. Also plustert man sich auf und geht in den Hahnenkampf. Man schmückt sich mit Wertgegenständen und erkennt „Weicheier“ und „Frauenversteher“ schon an ihrer Kleidung und ihrer Sitzhaltung (nicht etwa breitbeinig, sondern geschlossen oder gar weiblich mit überschlagenen Beinen). Insofern begegnen sich Putin und Erdogan vollständig auf Augenhöhe. Sie zeigen Respekt für den jeweils anderen, indem sie ihm Rache schwören.

Eigene Interpretationen und Logiken neu deuten

Projektionen aufzulösen ist eine Lebensaufgabe, die einigen im Lauf des Erwachsenenalters gelingt, vielen niemals. Zur Auflösung gehört die Neudeutung von Lebensinterpretationen, die in uns verharren, weil sie in uns über Jahre und Jahrzehnte gewachsen sind. Ein Zeichen aufgelöster Projektionen ist eine höhere Ich-Entwicklung zur Stufe E6 und E7 nach Loevinger. Auf diesen Stufen finden sich aber gerade mal 15% der Menschen, legt man die Analyse von William Torbert und David Rooke zugrunde. Die beiden Wissenschaftler haben mit einer Befragung und einem Leadership-Test die von mir hier vorgestellten Loevinger-Stufen – die sich so ähnlich auch in anderen Entwicklungsmodellen von Ken Wilber über Spiral Dynamics bis 9Levels widerspiegeln – in Managertypen übersetzt. Dabei ging es ihnen um dem jeweiligen Typ zugrunde liegende Handlungslogiken.

torbertrookeEine Handlungslogik ist das eine Aktion leitende und die Situation interpretierende Motiv. Warum handeln Putin und Erdogan so und nicht anders? Nach dem Modell der „seven transformations of leadership“ von Torbert und Rooke sehe ich beide als Macht- und Wettkampf gesteuerte Opportunisten – d.h. sie anerkennen die andere Seite weder in sich selbst noch in anderen. Torbert und Rooke schreiben zum Oportunisten: „wins any way possible“ und „They reject feedback, externalize blame, and retaliate harshly.”

Eine harte Gangart ist in manchen Situationen hilfreich. Dazu muss aber die andere Seite der Medaille gewertschätzt werden. Wer nur drückt, bekommt Gegendruck. Wer loslässt, löst auf. Das bedeutet, dass die Ich-Projektion aufgelöst sein muss, um sich „erwachsen druckvoll” zu verhalten, dass also das Nachgeben als situativ angemessene Option angesehen werden kann und nicht als kompletter Ich-Verlust. Dies ist auf höheren Entwicklungsstufen der Fall, etwa beim Individualist, Strategen und Alchemisten nach Rooke und Torbert. Die Logik dieses Modells sowie ähnlicher Entwicklungskultureller und entwicklungspsychologischer Ansätze liegt darin, dass die vorherigen Stufen jeweils in der neuen enthalten sind, es also kein Entweder-Oder gibt. So kann ein Stratege auch zur Handlungslogik des Opportunisten oder Diplomaten fähig sein, wobei er das situativ unterscheiden und für sich wahrnehmen kann – was letztendlich die Höherentwicklung kennzeichnet.

Wertequadrat: Von positiven Gegensätzen und negativen Übertreibungen

Sehr hilfreich beim Verständnis von Ich-Projektionen ist das Wertequadrat von Friedemann Schultz von Thun, das Karrierecoachs und Business Coachs sicher kennen. Es spiegelt eine dialektische Sichtweise der Welt, die davon ausgeht, dass alles zwei Pole hat, von denen keiner besser ist als der andere. Reife Menschen erschließen sich im Laufe des Lebens beide Seiten: Der Introvertierte den Kontakt, der Extrovertierte die Zurückgezogenheit. Der Praktiker braucht den Theoretiker, der Theoretiker den Praktiker – in sich, aber auch als Gegenpol im Unternehmen. Wenn der Theoretiker den Praktiker in sich erobert, so wird er deshalb wohl nie Praktiker werden, ihn aber als Kollegen schätzen. Wenn aber der Praktiker den Theoretiker für sein geschwollenes Blabla und seine Besserwisserei abwertet, wenn der Theoretiker den Praktiker für seine intellektuelle Niedrigentwicklung mit Ignoranz straft, ist fruchtbare Zusammenarbeit nicht möglich. Natürlich gilt es, im Laufe des Lebens beide Seiten zu erschließen, jedoch wird es für Menschen immer ein Heimatfeld geben. Doch damit ist es ähnlich wie mit fremden Ländern: Erst wenn ich sie bereise und mich mit ihnen beschäftige, werden sie mir vertraut. Ansonsten lehne ich sie ab.

Stärken müssen horizontal und vertikal gesehen werden

wassindmeinestaerkenDiese Aspekte werden bei der Stärkenorientierung oft ausgeblendet. Modelle wie der Gallup Strengthfinder (hier mehr) setzen vor allem auf eine vertikale Entwicklung, sie verstärken die Stärke also zur Spitze. Entwicklung ist aber immer auch horizontal – um seine Lebensziele zu erreichen muss sich das Denken in Schwarz und Weiß auflösen, was automatisch dazu führen muss sich andere Seiten zu erschließen. Mein Buch „Was sind meine Stärken?“ das im Februar erscheint, setzt auf diesem Gedanken vertikaler und horizontaler Entwicklung auf, mit praktischem Fokus und wenig Theorie.

Im Zeichen einer agileren Arbeitswelt mit flacheren Hierarchien sind die Themen vertikale und horizontale Entwicklung, die die Auflösung von Ich-Projektionen integriert, aus meiner Sicht essentiell. Mich wundert immer wieder, dass auch große Beratungsfirmen Kompetenzen im Sinne von Verhaltensfähigkeiten schulen, aber nicht an der Auflösung der Projektionen arbeiten, die Voraussetzung ist, damit „soft skills“ überhaupt andocken können und zu authentischem – und nicht mechanistischem – Verhalten werden. Diese Auflösung erreicht man kaum durch Persönlichkeitstests mit einseitiger „So bist du/so bin ich“-Zuweisung, sondern einzig und allein durch Selbstreflexion und gemeinsame Reflexionen im Führungskreis. Menschen, die sich so – also über Reflexionen auch horizontal – entwickeln, werden merken, dass sie in keine Typologie mehr passen.

Man erreicht Putin und Erdogan – und all jene die in Unternehmen ähnlich ticken -, nicht inter pares. Es würde also wenig Sinn machen, beide Staatslenker allein zur Leaderreflexion zu schicken, man sollte Steinmeier mitseden, also jemanden, der zu systemischen Denken fähig ist, nicht abgehoben und in Ich-Projektionen verhaftet ist.

Aus meiner Sicht ist das Thema Ich-Projektion eines der wichtigsten für die Persönlichkeitsentwicklung überhaupt. Nur wer diese auflöst, kann unterschiedliche Menschen wertschätzen und motivieren. Wer sich auf eine Reise zu einer Öffnung der eigenen Perspektiven aufmacht, wird sich ohne weiteres Zutun persönlich weiterentwickeln. Es ist insofern auch eine gute Basis, in der Ich-Entwicklung weiterzukommen und die nächste Stufe zu erreichen. Das Risiko könnte sein, dass man danach in sein derzeitiges Unternehmen nicht mehr passt. Dann ist es eine Frage der Karriereentwicklung und ein Fall für Karrierecoaching.

PS: Wenn Sie Lust haben, sich mit Ihren Ich-Projektionen oder denen Ihrer Mitarbeiter zu näher zu beschäftigen, ist eine Motivanalyse nach der Motivstrukturanalyse MSA, die Sie bei uns in Form einer umfassenden Potenzialanalyse machen können, eine gute Basis.

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

2 Kommentare

  1. Jan Thomas Otte 5. Dezember 2015 at 14:07 - Antworten

    “Ich sehe was, was du nicht siehst” – damit spielen Kinder. Und nach ein paar Stunden Unterricht bei Grundschülern merke ich: die haben etwas drauf, was große Jungs (und Mädels) im Management erst wieder lernen müssen. Too bad, but true! Das mit dem eigenen Splitter im Auge und dem Balken im Auge des anderen – oder war’s doch umgekehrt? 😉

  2. Dagmar Dörner 6. Dezember 2015 at 22:20 - Antworten

    Putin und Erdogan sind ein gutes Beispiel dafür, dass in postheroischen Gesellschaften der klassische Leader mit “Ich-Projektion” nicht mehr passt. Eigentlich. Denn auch im Unternehmenskontext lässt sich – schaut man top-down – oft beobachten, wie ein Putin im oberen Managementlevel den Rahmen steckt: Da ist es dann eben nicht en vogue, andere Sichtweisen mit einzubeziehen, das wird dann sofort als Schwäche interpretiert. Und zack, ist der Heroismus doch wieder da. Finde deshalb sehr wichtig, den kulturellen Kontext in die Arbeit mit den Führungskräften einzubeziehen. Die Beispiele, die ich so vor Augen habe, können nämlich super mit dem Wertequadrat umgehen – in der Praxis hingegen kreieren sie Realitäten und lassen keine anderen Deutungen zu. 🙁

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