Kategorien

Komplementär-Stärken: Warum Sie keine authentische Kuh sein müssen

Veröffentlicht: 19. Juni 2016Kategorien: Psychologie

Sind Sie immer gleich? Immer nur das eine oder das andere? Wahrscheinlich nicht. Und doch wird es oft von uns erwartet: Jemand, der kreativ ist, soll immer kreativ sein. Wer empathisch ist, muss es ständig sein. Das ist Unsinn. Menschen, die ihr Verhalten den Situationen anpassen können, haben meist schlicht und ergreifend mehr Verhaltensmöglichkeiten. Ihr Radius ist größer. Konstruktivistisch gedacht, haben sie mehr Schnittmengen mit anderen „Welten“. Meist ist es ein Zeichen davon, dass Schwarz-/Weiß-Denken und Entweder-oder aufgelöst ist. Anders ausgedrückt: Diese Menschen sind reifer, was oft daran liegt, dass sie mehr Unterschiedliches gesehen und erlebt haben als andere.

milk-cow-293923_1280Die authentische Kuh ist immer A oder B

Da muss ich an die „authentische Kuh“ von Harald Schmidt denken, der damit sagen wollte, er sei eben keine authentische Kuh, sondern eine Charaktermaske. Eine Kundin hat mich diese Woche auf dieses Bild aufmerksam gemacht (danke!), was mir sehr gut gefällt. Die unauthentische Kuh Harald Schmidt kann überall so sein, wie es gerade passt, angemessen ist oder ihm nutzt. Das Bild passt auch gut zu Stärken. Vom Charakter ist es ja nicht weit weg zu den Stärken – und zum für meine Begriffe völlig falschen Bild von einer charakterstarken Person, die sich – sofern authentisch – immer gleich verhält. Authentisch ist ein fieser Begriff, der manchmal genutzt wird, um sein eigenes Verhalten möglich eindimensional zu halten.

entwederoder

Screenshot Plakos Berufsewahltest

Ich selbst kann sehr unterschiedlich sein. Menschlich, fürsorglich, emotional, einige sagen sogar „mütterlich“ – und dann wieder strategisch, nüchtern und sachlich. Fantasievoll und verträumt, aber auch klar. Ich bin sehr strukturiert und zugleich äußerst flexibel.  Ich passe mein Verhalten der Situation an, indem ich frage, was ist jetzt angemessen, was ist mein Auftrag – mein innerer, repräsentiert durch meine Werte und mein äußerer, vertreten durch den, der mich bezahlt. Auf Menschen wie mich sind Persönlichkeitstests nicht ausgelegt. Sie wollen entweder-oder, etwa der Test im Bild, nach dem ich Mitmenschen gegenüber fair ODER mitfühlend sein soll.  Ich habe da keine Tendenz. Es kommt immer darauf an. Ich nutze also viele Komplementärstärken.

Einige Beispiele für (scheinbare) Komplementär-Stärken:

  • Emotional versus sachlich
  • Kreativ (also veränderungsorientiert) versus bewahrend
  • Fantasievoll versus praktisch
  • Empathisch versus durchsetzungsorientiert
  • Strukturiert versus flexibel
  • Intuitiv versus analytisch
  • Mathematisch begabt versus verbal stark
  • Theoretisch versus praktisch
  • Teamorientiert versus unabhängig
  • Zukunftsorientiert (Futurist in meinem Modell) versus gegenwartsorientiert (Alltagsmanager)
  • Prüfend-genau versus schnell-managend
  • Strategisch versus kollegial führend

Wer jetzt denkt, die andere Seite ist ja auch die Basis für eine Schwäche, liegt richtig. Je nach Augenmerk, wird aus Stärken schnell eine Schwäche. Der Teamorientierte wird dann zum Angepassten, der Eigenwillige zum Egoisten. Auf die richtige Dosis und die passende Situation kommt es an!

Wer sagt, „ich will nur meine Stärken nutzen“ rechtfertigt  einseitiges Verhalten. „Ich sag ja nur, was ich denke, ist ja eine Stärke“ – ist der Klassiker, um deutsche Direktheit zu rechtfertigen. „Ich kann nun mal nicht präsentieren“, entbindet einen schon vom Versuch. Viele Menschen nutzen Gegensatz-Denken, um sich aus der Verantwortung zu ziehen, „Ich bin ja A und nicht B, A und B schließen sich aus“, sagen sie. Wenn ich B aber so kategorisch ablehne, heißt das auch: Ich will mich nicht entwickeln. Ich erkenne auch nicht die Qualität der anderen Seite, sondern werte diese ab.

Stärken basieren auf extremen Eigenschaften

Komplementäre lassen sich aus dem Big-Five-Modell leicht erklären. Ein begabter Stratege wird höchstwahrscheinlich eher eine hohe Offenheit für neue Erfahrungen haben und eine tendenziell niedrige Verträglichkeit, weil er mehr auf sich konzentriert ist. Er wird deshalb vermutlich kein Team-Kümmerer sein, sein Denken ist mehr auf Fragen wie „wie entwickelt sich der Markt, was macht der Wettbewerb, was gibt es Neues?“ ausgerichtet ist und weniger auf „wie geht es meinen Mitarbeitern, wie hat X verarbeitet, dass… oder wie kann ich Zusammenarbeit verbessern?“ Diese Person hat also extremer ausgeprägte Eigenschaften. Dennoch kann es eine gute Führungskraft sein. Auch der Stratege kann situativ anderes Verhalten lernen und muss kein Mensch sein, der andere grundsätzlich vor den Kopf stößt.

Das gilt für alle Komplementärstärken: Wer praktisch ist, muss nicht die Theorie völlig außer achten lassen. Wer sachlich ist, kann durchaus auch emotional sein. Und so weiter.

Stärkenorientierung ist ein Dilemma für kleine Unternehmen

Unter unseren Kunden sind einige Unternehmen, die sich wirklich bemühen, ihre Mitarbeiter zu entwickeln, damit sie die Aufgaben lösen können, die der Betrieb bietet. Diese Aufgaben sind nun mal da. Es ist schwer möglich, sich in einem kleinen Unternehmen den Job selbst zu gestalten. Während man in Konzernen sehr spezialisierte Aufgaben bekommen kann, muss man in kleinen Unternehmen meist A UND B machen.  Es werden ziemlich sicher auch Aufgaben dabei sein, die einem weniger liegen. Aber bei 5, 7 oder auch 10 Mitarbeitern ist konsequent stärkenorientierter Einsatz von Mitarbeitern kaum möglich…

Auch Führungskräften in Konzernen sind oft die Hände gebunden. Sie leiten nach bestem Wissen und Gewissen Abteilung X und dort sind nun mal bestimmte „Skillsets“ wichtig. Wenn ein Mitarbeiter diese nicht mitbringt, muss er gehen oder sich entwickeln. „Gehen“ allerdings liegt außerhalb der Vorstellungskraft in traditionellen Unternehmen, die auf Mitarbeiterbindung angelegt sind. Und dann bleibt nur entwickeln…. Das funktioniert gut, so lange es um Komplementärstärken geht, von denen beide Seiten gebraucht werden. Das funktioniert schlecht und tut auch den Menschen nicht gut, wenn NUR die andere Seite des persönlichen Heimathafens abgefordert wird, wenn also beispielsweise der Mitarbeiter mit der Stärke „kreativ sein“ überwiegend Routineaufgaben hat.

Aber wenn ein Mitarbeiter ein Super-Kommunikator ist, aber trotzdem auch etwas Buchhaltung machen muss? Dann ist das mit den Komplementärstärken stärken deutlich einfacher, so lange der Schwerpunkt der Arbeit da bleibt, wo der Mitarbeiter sich zuhause fühlt. Und so lange die Stärke nichts mit kognitiven Fähigkeiten zu tun hat, sondern nur mit der Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen.

Grenzen und Chancen der Komplementär-Stärkenentwicklung

Die Grenzen der Komplementär-Stärkenentwicklung sind da, wo wir Interessen und Denkpräferenzen berühren. Es ist schwer aus jemanden, der sich gedanklich nicht ständig mit der Zukunft beschäftigt, einen Trendforscher machen. Man wird auch keine Super-Physiker aus jemand formen, der sich nullkommanull dafür interessiert. Es bleiben dennoch jede Menge Stärken übrig, die vor allem mit dem Wollen zu tun haben, also der inneren Bereitschaft etwas zu tun oder zu lassen – und sich zeitweise auf etwas einzulassen, was sonst nicht auf dem eigenen inneren Stärken-Zettel steht. Nehmen wir einmal „Prüfend-genau sein“ versus „schnell-managend handeln“.  Wenn die eigentliche Stärke „schnell-managend“ ist, kann jemand situativ lernen, die Prüfer-Brille aufzusetzen. Im meinem Buch „Was sind meine Stärken“ ist das der Gedanke der Soll-Stärke, die ein Mensch braucht, um in etwas besser zu werden, was er gern tut. Das macht aus ihm oder ihr keinen Buchhalter, wird aber seine Stärkenbasis verbreitern. Und wenn man am Ende sagen kann „ich kann das auch!“ ist das immer auch ein gutes Gefühl… Einfach einmal ausprobieren.

Beitrag teilen:

Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

2 Kommentare

  1. Christina Baier 25. Juni 2016 at 11:32 - Antworten

    Liebe Svenja Hofert,

    spannender Artikel und toll auf den Punkt gebracht.
    Ergänzen möchte ich aus meiner Sicht und Erfahrung, dass das Dilemma der Stärkenorientierung in kleinen Unternehmen auch den Klein- und vor allem Einzelunternehmer persönlich betrifft und zwar an dem Punkt, an dem es um den Verkauf seiner Dienstleistungen und Produkte geht. Menschen, die oft Experte auf ihrem Gebiet sind, die aber nie vorhatten, auch Verkäufer sein zu müssen, kommen dann mitunter an einem Punkt an ihre Grenzen, der schon kurzfristig ihr gesamtes Business existenziell bedroht. Nun lassen sich die erforderlichen kommunikativen Fähigeiten erfreulicherweise ja verhältnismäßig leicht ausbauen. Entscheidend schwieriger ist hier oft die Arbeit am “verkäuferischen Mindset”. Selbst wenn grundsätzlich Einsicht und Bereitschaft zur Veränderung vorhanden sind – was bei selbstständigen Unternehmern i.d.R. der Fall ist.
    Beste Grüße in`s Wochenende
    Christina Baier

Einen Kommentar verfassen