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Mach dich schlau(er): Was mit Gehirntraining alles möglich ist (Rezension)

Wollen Sie sich mit Ihrer Matheschwäche abfinden? Akzeptieren, dass Sie nun mal kein Geschichtenerzähler sind? Sie müssen nicht. Dank der Hirnforschung wissen wir: Das Gehirn ist eine einzigartige, komplexe elektrochemische Reaktion. das sich trainieren lässt. Die Landkarte aus Synapsen, dieser wahnsinnige Wissensspeicher, ist immer erweiterbar. Und fast nichts ist unmöglich. Wenn man der einen Seite der Forschung glaubt, den Optimisten.
Der Forscher Niels Birbaumer gehört zu diesen Optimisten. Er hat einige Lehrbücher geschrieben und jetzt ein populäres Sachbuch mit dem Journalisten Jörg Zittlau veröffentlicht: „Dein Gehirn weiß mehr als du denkst.“ Das Buch beginnt trotz viel versprechender Thesen allerdings mit Enttäuschungen: Es nervt, wenn immer wieder das Milgram-Experiment zitiert wird, das nun schon 50 Jahre alt ist. In dem weltberühmten Experiment, das sich in jedes zweite Sachbuch verirrt, geben Probanden einer Person in einem anderen Raum auf Anweisung Stromschläge, bis diese ohnmächtig werden (allerdings sind die Personen, was die Probanden nicht wissen, Schauspieler). Damit wies Milgram nach, dass jeder ein Eichmann werden könne, ein Gehilfe des Terrors und böser Folterknecht. Das ist nun keine neuere Gehirnforschung. Das wissen wir schon lange.
Persönlichkeit gibt es nicht
Der interessantere Teil der Milgram-Studie ist der, dass keinerlei Persönlichkeitsmerkmale gefunden werden konnten, die auf eine Neigung zum blinden Gehorsam deuten, weder Intro- nach Extroversion, weder Gewissenhaftigkeit noch Neurotizismus. Einzig waren es Katholiken und Militärangehörige, die im Experminent etwas leichter gehorsam geworden sind, also der Anweisung Folge geleistet haben. Hier hätte jetzt Kritik am Studiendesign dazu gehört: Es waren 100 Probanden, von denen 65 den Anweisungen folgten, die anderen brachen ab. Die Persönlichkeitsstudien erfolgten Jahre später. Erfahrungsgemäß sind dann nur noch ein Teil der Probanden verfügbar, wie viele ist nicht erwähnt. Insgesamt ist die Studie also nicht nur sehr alt – und die Zeiten haben sich geändert -, die Fallzahlen sind auch eher klein und wurden im Laufe der Studie vermutlich kleiner.
Birbaumer führt das Milgram Experiment als Beweis an, dass es sowas Persönlichkeit – im Sinne stabiler Eigenschaften – nicht gibt. Oder noch mehr, dass nicht die Persönlichkeit Verhalten bestimmt, sondern die Umwelt. Da zitiert er sich selbst als bestes Beispiel. Als Jugendlicher war er Mitglied einer gewalttätigen Bande bis sein Vater ihm eine Polsterlehre androhte und er das kleinere Übel wählte: das Abitur auf einer anderen Schule machen. Dann wurde alles gut. Die Geschichte ist schön, aber beweist die Nicht-Existenz von festen Persönlichkeitsmerkmalen auch nicht. Man könnte auch argumentieren, dass sich Birbaumer eine Umwelt gesucht hat, die besser zu seinen Anlagen passt.
Du bist, was die Umwelt aus dir macht
“Du bist, was die Umwelt aus dir macht”, ist im Grunde eine gute These, aber leider ist die Beweisführung im Buch nicht überzeugend. Es folgen viele Beispiele von so genannten Lockedin-Patienten, bei denen kein Körpersignal zum Gehirn vordringt und Psychopathen, die sich vor allem durch ihre Furchtlosigkeit auszeichnen. Letztere behandelte Birbaumer mit Neuro-Feedback. Damit kann über einen Computer sichtbar gemacht werden, was im Gehirn des Patienten passiert. Das Neuofeedback kann bei Psychopathen zeigen, ob bestimme Regionen im Hirn, die für Angstempfinden zuständig sind, aktiviert werden. Wenn dies passiert, lernt der Psychopath Gefühle.
Das ist der interessantere Teil des Buches. Er zeigt, dass unser Gehirn veränderbar ist durch bewusste Stimulanz. Das fällt unter das große Thema Neuroplastizität: Das Gehirn kann trainiert werden. Es kann nicht nur Wissen aufnehmen, sondern auch Emotionen und Zusammenhänge verstehen lernen. Ein prägnantes Beispiel ist Barbara Arrowsmith-Young „the woman who changed her brain“ – ihr grandioses TedX-Video sehen Sie hier. Sie kommt im Buch allerdings gar nicht vor.
Was alles möglich ist…
Wie Training des Gehirn verändern kann, wurde in den letzten Jahren in verschiedenen Studien ermittelt: Londoner Taxifahrer, die eine der härtesten Prüfungen für eines der wirrsten Straßengeflechte ablegen mussten, hatten nach dem Üben einen größeren Hippocampus. Der Hippocampus, das kleine Seepferdchen am unteren Ende des Hirns, ist ein Teil des Langzeitgedächtnisses, das vor allem Erinnerungen speichert, die intuitiv abgerufen werden. Eine andere Studie zeigt: Medizinstudenten verbessern durch Training ihr analytisches Denken. Eine weitere: Schüler verbessern innerhalb von vier Jahren ihren verbalen IQ. Kinder mit Down-Syndrom schaffen ihren Hauptschulabschluss – früher undenkbar. Vieles geht, aber noch nicht alles.
Wie sehr der eingeschränkte Glaube an die eigene Veränderbarkeit, beruflichen Erfolg und Entfaltung ermöglichen und diese limitieren kann, sehe ich täglich. Wer nicht denkt, dass er/sie sich verändern kann, tut es auch nicht. Man hätte wirklich mehr aus dem Thema machen können.
Das Buch kommt vom Storytelling und der Informationsaufbereitung lange nicht an die oft perfekte Dramaturgie Amerikanischer Wissenschaftsjournalisten heran, etwa Jonah Lehrer und Malcolm Gladwell. Es ist aber laienkompatibel und gut leserlich geschrieben. Vom wissenschaftlichem Informationsgehalt und auch Anspruch ist es allerdings kein Vergleich zu den Büchern von Gerhard Roth (welche allerdings weniger angenehm zu lesen sind). Das Literaturverzeichnis umfasst eine beschämende Drittel Seite und die Anmerkungen 1,5 Seiten. Das finde ich für einen wissenschaftlichen Autor zu wenig.
Soll man das Buch jetzt lesen? Ja, wenn Sie Zweifel daran haben, dass fast alles möglich ist, wenn man es nur trainiert. Ja, wenn Sie ein Einsteiger in das Thema sind. Ja, wenn Sie Mutter oder Vater eines ADHS-Kindes sind. Ja, wenn Sie verstehen wollen wie Psychopathen ticken und Lockedin-Patienten.
Nein, wenn Sie das Gehirn besser verstehen wollen, dafür liefert das Buch zu wenig Wissen und Hintergründe. Dann lieber Gerhard Roth “Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten”, wobei der fast eine Gegenthese zu Birbaumer vertritt – bei vermutlich ähnlichem Wissensstand. Was zeigt, dass es noch eine Menge Interpretationsspielraum in Sachen Hirnforschung gibt.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken abonnieren. Auf Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.