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Sich selbst und andere verstehen: Warum Schubladen helfen
Schubladen sind nur für die Sortierung von Strümpfen akzeptierte Einordnungshilfen. Die Schubladen namens ENTP, ENFJ etc. des Tests „MBTI“ sowie den damit verbundenen Namen des Psychologen C.G. Jung sollte man dagegen in Expertenkreisen, vor allem wenn diese mit Psychologen besetzt sind, nicht verwenden – will man keine verächtlichen Blicke ernten. Vom Fachkreis-Image her kann es der MBTI mit Parapsychologie und Astrologie aufnehmen, C.G. Jung ist so etwas wie der Chefastrologe.
In seinem Buch “Menschenkenntnis. Der große Typentest” führt Lars Lorber, seit 2002 Betreiber der Website Typentest, MBTI-Typen und Big Five zusammen und neutralisiert dabei die wertenden Aspekte. Was ist das beides? Und warum dieser Ansatz?
Die eine Seite: Typen
Die Wissenschaftlichkeit des MBTI lässt in der Tat zu wünschen übrig. Es gibt keine aktuellen Studien und keine Belege, dass die Typenzuordnung so stimmt oder mehr ist als eine Momentaufnahme.
Dummerweise hat der MBTI – Myers Briggs Typenindikator – , den David Keirsey später adaptierte, bei Laien – man könnte jetzt munkeln: ähnlich wie die Astrologie – einen guten Ruf und eine starke Lobby. Man mag es, sich und andere damit in die Schublade zu stecken.Die Schubladen sind dann eine enorme Hilfe. Ganz besonders für seltene „Typen“ wie INTP und INTJ, für die es die meisten Internetforen gibt.
„Ah, so bin ich! ´Deshalb habe ich mich immer so anders gefühlt. Und: Oh, deshalb ist mein Chef so seltsam!“
Solcherlei Erkenntnis kann viel bewegen und auch bewirken. Wenn ich die Vita meines Autorenkollegens Guenter Dueck richtig interpretiere, so begann seine Beschäftigung mit sich selbst und den Menschen, die in der „Omnisophie“ mündete, mit einem Typentest.
Schubladen lassen vielleicht Aspekte außer Acht, und man sollte sie nicht zu eng sehen – aber sie schaden nicht. Coachs und Berater, die solche Tests einsetzen, sollten Klienten über Nebenwirkungen und Grenzen informieren. Wie man´Nutzen aus den Tests zieht, habe ich in meinem Buch „Meine 100 besten Tools für Beratung und Coaching“ beschrieben.
Die andere Seite: Big Five
Ein anderer Test wird Expertenseitig dagegen kaum in Frage gestellt: Die Big Five, mit denen wir in unserer Beratung auch aufgrund ihrer Akzeptanz und wissenschaftlichen Anerkennung seit einiger Zeit arbeiten. Sie beruhen auf einem lexikalischen Ansatz und liegen fast allen Studien zur Persönlichkeit zugrunde. Deshalb kann man mit ihrer Hilfe belastbare Aussagen etwa zu leicht entwickelbaren Kompetenzen treffen. Die Big Five haben aber einen riesengroßen Haken: sie sind nicht besonders Laientauglich, da sie werten und bewerten. Im Big Five-Sinn ist Introversion zum Beispiel ein Mangel an Extraversion. Das hört ein Introvertierter nicht so gern. Unter anderem deshalb konnten sich die Big Five trotz beeindruckenden Datenmaterials und unzähliger Studien bisher nicht durchsetzen.
Lorber vereint nun beide Ansätze zu etwas Neuem. Er eliminiert das Wertende aus dem Big Five und kombiniert es mit der Jeder-ist-anders-das-ist-Okay-Philosophie der Jungschen Ansatzes. Der im Übrigen erstaunliche Parallelen zu den Big Five aufweist. Ebenso übrigens zur Temperamentenlehre.
Das Ganze ist auch für Laien sehr verständlich aufbereitet. Gut gefällt mir Lorbers Erfindung des „Kapitäns“ – der stärksten persönlichen Eigenschaft, die einen leitet und am meisten prägt. Toll auch die zahlreichen Fallbeispiele von „Onkel Willi“ und anderen fiktiven Personen, die das Buch für Menschen wertvoll macht, die keine psychologischen Kenntnisse haben. Sie erhalten konkrete Hilfen, um Partner, Kollegen und Chefs einzuschätzen. Etwa: “Warum legt der Chef so viel Wert auf das letzte Komma, wo das doch (aus meiner Sicht) gar nicht wichtig ist? Weil er sehr gewissenhaft ist!”
Seit mehr als 12 Jahren beschäftigt sich Lars Lorber mit Persönlichkeit, seit einigen Jahren füttert er auch einen Blog. Seine Seite Typentest hat er aus persönlichem Interesse und dem Wunsch, sich selbst und andere zu verstehen, aufgebaut. Soviel ich weiß, ist Lorber fachfremd, weder Coach noch Pädagoge oder Psychologe. Das kann bei solchen Unterfangen ein Vorteil sein, denn ein Fachmensch hätte sich das womöglich nicht getraut. Haben Menschen, die ein Fach gelernt haben, doch die Tendenz sich an das Er- und Gelernte zu halten und würden eher keine unkonventionellen Ansätze wagen. Lorber hat sich dem Thema mit dem Blick des Laiens genähert und seine „Linse“ nach und nach geschärft, auch durch viele Leserreaktionen.
Mich erinnert der praktische und umsetzungsorientierte Ansatz in vielem an Sylvia Löhkens Buch „Leise Menschen“. Es bietet sich an als Handuch für alle, die praktische Lösungen suchen. Wer wissenschaftlicheres Wissen sucht, dem empfehle ich wärmstens Daniel Nettles „Persönlichkeit“. Oder, falls Sie sich mit Steven Reiss auskennen: Für Neugier dunkelgrün ist Nettle (zusätzlich) ideal, für Neugier rot oder gelb ist Lorbers Buch ein verdaulicherer Einstieg.
Was mir gar nicht gefällt ist allerdings das Cover. Irreführend auch der Reihentitel „Beck professional“. Das suggeriert ein Experten-Thema, was es nicht ist. Auch hätte man etwas mehr Liebe in die Innengestaltung investieren können.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.
Bei einem Sachbuch ist es immer schwierig, ein Thema entsprechend so umzusetzen, dass es für einen Leser interessant genug ist. Fachbücher müssen z. B. von Studenten gelesen werden, während Sachbücher mehr oder wenig freiwillig gelesen werden. “Menschenkenntnis…” bietet reichlich praktische Tipps und dank der vielen Beispiele bekannter Größen aus Politik und Fernsehen kann Lars Lorbeer sicher viele für das Thema gewinnen.