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Was kann ich im Vergleich zu…? Potenzialanalysen mit Bezugsgruppen

Stärken-Selbstbilder haben eine große Schwäche: Es gibt immer blinde Flecken, also Bereiche, die Sie nicht sehen. Und Fehleinschätzungen, Verzerrungen. Beispiel: Charlotte fällt in der Schule alles leicht, Deutsch genau wie Mathe und Naturwissenschaften, sie kann gar nicht sagen, was sie richtig gut kann.
Fremdbilder sind genauso fehleranfällig. Sie können enorm hilfreich sein: Ein „Mensch, du bist richtig gut“ von der richtigen (weil akzeptierten) Person kann unheimlich viel auslösen und sehr nachhaltig beflügelnd wirken. Aber Fremdbilder haben auch blinde Flecken, Bereiche also, die Vertraute, Freunde und Kollegen – und auch Berater! – nicht sehen. Hinzu kommt: Außenstehende neigen dazu, eigene Bewertungsmaßstäbe anzusetzen (also durch die eigene Brille zu schauen).
Potenziale über Vergleiche erschließen
Eine Methode, die ich im Laufe der Jahre für das Karrierecoaching entwickelt habe, ist die Bezugsgruppen-Potenzialanalyse. Sie funktioniert über einen detaillierten Stärkenvergleich anhand einer Bezugsgruppe – und zwar zunächst jener, in der sich ein Mensch aktuell bewegt. Bezugsgruppen sind mannigfaltig: Die Herkunftsfamilie ist eine, die aktuelle Familie, die Schule, der Verein, die Kollegen… Mit Aufstellungsfiguren lässt sich so eine Bezugsgruppe noch plastischer darstellen. Mit Hilfe der Figuren werden Fragen gestellt wie „Wenn du deine Kollegen beobachtest, was machst du anders? Wie würde A dich beschreiben?“ usw. So kommt man auf Stärken, also persönliche Eigenschaften sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bei einer Person auffällig sind, weil sie ausgeprägter vorliegen als bei anderen in der Bezugsgruppe (man kann auch mit + und ++ arbeiten). Beispiel Mathe: In ihrer Abiturklasse gehört Charlotte zu den besten. Sie lernt wenig und versteht schnell. Vor allem ist sie sehr gut im räumlichen Vorstellen, noch besser als der beste Junge in der Klasse (der Karrierecoach weiß hier, dass Mädchen durchschnittlich schlechter abschneiden). Das ist schon mal eine Stärke.
Wie viel Prozent am Tag sprechen Sie?
Welchen Gesprächsstil im Vergleich zu anderen bevorzugt eine Person: einen fragenden, erzählenden, argumentierenden, vermittelnden…? „Hackordnungen“ sind auch gute Indikatoren. Welche der Gruppenmitglieder sind klare Alphas, also von allen anerkannt, im Mittelpunkt stehend.
Charlotte sieht sich in der Mitte, sie aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten akzeptiert. Ein Soziogramm, das wechselseitige Beziehungen sichtbar macht, kann helfen, solche Beziehungen sichtbar zu machen, auch im Arbeitskontext. Wie steht Kollege A zu wie B zu A? Welche Situationen beschreiben das Verhältnis? Durch welche Handlungen ist A erfolgreich, durch welche B?
Charlotte liest viel und weiß mehr als ihre „Bezugsgruppe“ der Mitschüler. “Wissen im Detail“ ist eine weitere Stärke. In der Gruppe sagt sie nur etwas, wenn sie sicher ist, damit richtig zu liegen. Dann ist sie so gut und so sicher in der Kommunikation, dass selten jemand ein besseres Argument hat. Sobald sie sich aber nicht auf Wissen berufen kann, wird sie still und unklar.
Eine Bezugsgruppenanalyse lässt sich auch zur „testfreien“ beruflichen Neu- und Erstorientierung durchführen, wie das geht, lernen Teilnehmer meines Seminars Potenzialanalyse.
Hier die Schritte:
1. Legen Sie die Bezugsgruppe und Stärken (en) – zunächst eine – fest.
- Beispiel: Bezugsgruppe Kommilitonen, Stärke: schriftliches Ausdrucksvermögen
- Leitfrage: Worin sind Sie besser als die Bezugsgruppe?
2. Wählen Sie die entsprechende Stärke aus und betrachten Sie Situationen, in denen sich die Stärke zeigte:
- Leitfrage: welche konkreten Beispiele und Belege gibt es dafür? (hier schriftliches Ausdrucksvermögen)
3. Bringen Sie die Stärke mit Vergleichsgruppen in Beziehung, in denen die Kompetenz beruflich zum Tragen kommen könnte
- Leitfrage: Wo und in welchen Bereichen lässt sich die Stärke beruflich nutzen? (hier ist es sehr sinnvoll, dass der Karrierecoach konkrete Vorstellungen von Anwendungsbereichen hat und diese als Anregung einbringt)
Was sind eigentlich Potenziale?
Abschließend noch ein paar Sätzen zu Potenzialen: Hier handelt es sich nicht einfach um eine Stärke, sondern eine Stärke, hinter der die entsprechende Motivation steht, die Stärke weiter zu entwickeln. Es mag sein, dass eine Stärke noch in den Kinderschuhen steckt, entscheidend ist der Wille, daran zu arbeiten. Dafür braucht ein Motiv.
Charlotte hat ein überdurchschnittliches räumliches Vorstellungsvermögen, aber sie möchte nicht in Berufen arbeiten, wo dieses Anwendung fände (Bauingenieur, Konstruktion etc.). Sie möchte lieber argumentieren und den Umgang mit Worten verfeinern. Sie hat gelernt, dass ihr das die meiste Anerkennung bringt. Schon ist da ein Motiv. Und aus der Stärke kann im passenden Umfeld jetzt mehr werden. In einem kognitiven Test wie Geva jedoch wäre Charlottes Beweggrund unter den Tisch gefallen. Bei der Analyse mit RIASEC oder BIS, die auf Selbsteinschätzung beruhen, wäre möglicherweise keine klare Tendenz sichtbar.
Mehr zu diesem Thema im Selbstlernkurs “Klarheit über mich” sowie weitere Hintergründe im E-Book “Karrierecoaching”. Die praktische Anwendung lernen Sie in der Karriereexpertenakademie.
Dieser Zusammenhang ist immer gegeben: Motiv-Stärke-Potenzial. Potenziale brauchen Treibstoff. Und das sind die Motive.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.
Ich bin auch davon überzeugt, dass Bezugsgruppen ein wesentlicher Faktor sind um zu wissen wie die Stärken und Schwächen einer Person im Vergleich zu anderen Personen einzuordnen sind.
Bei der Auswahl von Analysen oder Tests sollte daher immer darauf geachtet werden, das diese mit Bezugsgruppen arbeiten.
Ein zentraler Bestandteil zum Beispiel des OPQ von CEB ist, das Kandidaten mit ihrer aktuellen Ebene im Unternehmen, mit der Branche und mit der Region verglichen werden.
Zudem sollte natürlich klar sein, welche Fähig- und Fertigkeiten jemand für genau diesen Job in diesem Unternehmen mitbringen sollte.
Daher kann ich Ihnen nur zustimmen und hoffe auf weitere spannende Artikel von Ihnen.
Sich mit anderen zu vergleichen ist eine gute Möglichkeit um die eigenen Stärken und Schwächen zu ergründen. Das ist eine interessante Analysemöglichkeit, die Sie hier beschreiben. Vielen Dank für den Ratschlag.