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„Wenigstens bin ich mir treu geblieben“: Warum es nicht immer gut ist, klare Kante zu zeigen.

Veröffentlicht: 16. Oktober 2017Kategorien: Psychologie

Kennen Sie das? Sie sitzen in einem Vorstellungsgespräch oder bei einem Auftraggeber und ihre Zehennägel rollen sich auf. Ihr Gesprächspartner sagt Dinge, die sie moralisch-ethisch so ganz und gar nicht vertreten können. Sie sind entsetzt. Der furchtbare Macho vor ihnen äußert sich despektierlich über Vollzeit-Mütter, die Fachleute haben ein völlig verqueres Verständnis von Augenhöhe. Ach ja, und Werte werden offensichtlich auch mit Füßen getreten, wenn die Ihnen SOLCHE Fragen stellen.

Alles in Ihnen schreit danach, “authentisch” zu sein, zu sich selbst zu stehen und „die Wahrheit“ zu sagen, die Ihr deppertes Gegenüber einfach nicht sieht. Die Wahrheit, offen ausgesprochen oder in Belehrungen gekleidet, kostet Sie dann den Job oder den Auftrag. Das ist der Moment, indem sie stolz sagen: Aber ich war wenigstens ehrlich! Ich habe zu dem gestanden, an das ich glaube. Ich habe mich nicht verkauft.

Ist es wirklich so? Wäre es nicht viel geschickter, das Gegenüber abzuholen, einzuwickeln und den Wolf erstmal im Schafspelz zu lassen? Ich finde es gibt einige gute Gründe, nicht sofort alles auszupacken, was man in seiner eigenen Vorstellungskiste von einer besseren Arbeitswelt so lagert:

Der verstellte Blick: Der Personaler oder Fachverantwortliche will sein Problem lösen.

Er hat in der Auswahlsituation des Vorstellungsgesprächs einen anderen Aufmerksamkeitsfokus als Sie. Ein Beispiel: Sie sind überzeugt, dass sich die Scrum Rollen Product Owner und agile Coach auf gar keinen Fall verbinden lassen (was der reinen Lehre entspricht) und informieren dahingehend. Der Personaler aber macht, was ihm aufgetragen wurde (beide Rollen in einer Person). Wenn Sie jetzt „nein“ sagen, schaffen Sie ein Problem für jemand, der es aus seiner Position heraus gar nicht lösen kann. Sie sind authentisch geblieben, haben aber möglicherweise durch Ihr rigoroses Nein die Chance verspielt, sanft zu überzeugen oder etwas von innen zu ändern. Klar, der Job könnte Ihnen natürlich gestohlen bleiben, wenn Sie eh die Wahl haben. Aber das ist ja nicht immer so. Es gibt Situationen, da gibt es Gründe, das „Spiel“ erstmal mitzumachen und dann nach Hebeln suchen, die Situation im eigenen Sinn zu beeinflussen.

Die Eltern-Ich-Falle: Der Personaler oder Fachverantwortliche fühlt sich belehrt.

Wenn Sie im Vorstellungsgespräch sagen, wie man etwas macht und dass die Firma da bisher ganz schön auf dem Holzweg war, kann man mit dieser Ehrlichkeit in seltenen Fällen punkten. Meistens enttarnen Sie damit den anderen als ahnungslos. Sie setzen sich, transaktionsanalytisch betrachtet, ins kritische Eltern-Ich, dass das unwissende, dumme Kind aufklärt. Stellen Sie sich lieber eine Weile auf eine Ebene mit dem Gesprächspartner; als zwei Erwachsene auf Augenhöhe. Wenn es dann darum geht, die Dinge wirklich besser zu machen, haben sie schon Vertrauen aufgebaut und können ganz anders agieren.

Der Werte-Kollaps: Der Personaler oder Fachverantwortliche erleidet einen Gesichtsverlust, wenn er sie so reden hört – sie zeigen ihm ja geradezu, was er in seinem Unternehmen alles nicht hat.

Ihr Gegenüber möchte keinen Moralapostel im Betrieb, denn ziemlich sicher hat er schon reichlich Paradoxien erlebt und glaubt weniger an das „Gute“, das Sie im Schilde führen. Möglicherweise entsteht auch das dummer Junge/dummes Mädchen-Phänomen: Dann stellt man Sie doch ein, in dem heimlichen Wissen, dass der Arbeitsalltag allzu idealistische Vorstellungen schon zurechtrücken wird…

Die Verständnis-Lücke: Wir sollten wirklich nicht glauben, unsere Botschaften kämen beim anderen an, nur weil er lächelt.

Je komplexer die Botschaften, die Sie senden, desto mehr werden sie auf simple Aussagen heruntergebrochen, die Sie so gar nicht meinten. Da wird dann auch fröhlich weiterinterpretiert. „Aha, Sie wollen also keine Kompromisse eingehen“, könnte man allzu authentischen Botschaften hinzudichten. Deshalb ist es wichtig, klare Botschaften zu formulieren und diese möglichst nur mit einem Inhalt zu füllen sowie sich Verständnis des Gegenübers zu sichern. Am besten geht das durch gutes Zuhören und Fragen wie “habe ich Sie richtig verstanden…?” Je besser Sie verstehen, desto besser können Sie auf andere eingehen und desto treffsicherer eigene Ideen platzieren.

Die Heuristik-Falle: Der Primacy und Recency-Effekt schluckt Aussagen

Unser Gehirn ist kein Computer. Es ist normal, dass man sich merkt, was am Anfang (Primacy) und am Ende (Recency) war, aber die Mitte weitgehend ausblendet. Weitere Heuristik wirken und verfälschen die Realität, die es ohnehin nicht gibt: die Selbstbestätigungstendenz, der Halo-Effekt und auch Gruppendenken. Und dann gibt es noch das individuelle Mindset, mit dem jeder Dinge seinem eigenen Denken entsprechend zurechtstutzt… Denken Sie also weniger daran, was Sie sagen wollen, als wie sie es tun, damit es vom anderen wenigstens im Kern aufgenommen werden kann. Das ist die Kunst: Aussagen Empfängergerecht zuzuschneiden.

Ja, es ist ehrenwert, Werte zu haben. Aber „Da bin ich mir wenigstens treu geblieben“, ist auch sehr vom „Ich“ hergedacht und wenig vom „du“. Wer etwas beeinflussen möchte, braucht dafür eine Beziehungsebene und Vertrauen. Das muss erstmal aufgebaut werden, was Zeit braucht und langen Atem. Die Kunst ist letztendlich, diese Geduld mitzubringen und Veränderungen anzustoßen. Solches Verhalten wird oft als taktisch, politisch oder als „Fähnchen im Wind“ interpretiert. Aber ist Taktieren so falsch? Ein Fähnchen im Wind ist man damit noch lange nicht. Nur weil man etwas nicht sagt, heißt das nicht, dass man keine Haltung hat. Und nur weil man eine Meinung revidiert, weil neue Informationen dazugekommen sind, ist man auch kein Fähnchen im Sinn. Also, sich treu bleiben hat nichts mit “alles sagen” zu tun oder mit “einmal gesagt, dabei geblieben”. Lesen Sie dazu gern meinen Artikel über Haltung.

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert ist vielfache Bestsellerautorin, die sich im deutschsprachigen Raum über mehr als ein Vierteljahrhundert ein hohes Renommee als Vordenkerin für das Thema Zukunft von Arbeit und Führung erworben hat. Ihr Motto "Zukunft der Arbeit mit Sinn und Verstand". Dieses Blog besteht seit 2006 und wird nur noch gelegentlich gepflegt. Folgen Sie der Autorin, indem Sie Ihren kostenlosen Newsletter Weiterdenken  abonnieren. Auf  Linkedin können Sie der Autorin ebenso folgen und erhalten 14tätig die Weiterdenken Essentials.

One Comment

  1. Dr. Harald Lehmann 22. Oktober 2017 at 21:10 - Antworten

    In einem Vorstellungsgespräch bringt “Kante zeigen” nichts. Wenn ein Gespräch so läuft wie beschrieben hilft nur freundlich lächeln und hinterher absagen. Auch dann bleibt man sich treu.

    Bei Kunden ist es schwieriger. Ich schalte da “auf Durchzug”. Es ist ein Kunde, ich muss ihn ja nicht heiraten, sondern nur was verkaufen.

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