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Wie wir unseren “inneren Kern” und eigene Grenzen (wieder) finden

Veröffentlicht: 10. Februar 2017Kategorien: Psychologie

Vor einigen Jahren besuchte ich ein Seminar mit einigen Führungskräften. Es war eine Schulung in irgendeinem Testverfahren. Inhaltlich eher belanglos. In Erinnerung behalten habe ich mehr, was sich zwischen den einem Mitarbeiter und seinem Chef abspielte. Der Mitarbeiter war vollkommen davon überzeugt, so kreativ und humorvoll zu sein wie sein Chef. Er sah sich als Nachfolger, eigentlich fast schon als Chef des Chefs.

Zwei Tage reichten, um deutlich zu machen, dass der junge Mann seinem Vorgesetzten nicht das Wasser reichen konnte. Fraglos hatte er andere Talente, nur konzentrierte er sich jetzt auf etwas, das gar nicht zu ihm passte. Trotzdem glaubte er so sehr an daran, dass sogar sein Testergebnis entsprechend ausfiel. Er tat mir irgendwie leid, denn natürlich zeigte sich auch, dass er sich selbst nicht wahrnehmen konnte. Die Fixierung auf sein Vorbild war auffallend. Sicher spiegelte sich da irgendeine familiäre Situation.

Ich habe so etwas im eigenen Kontext auch erlebt. Ab und zu kamen Menschen zu mir, die meinten, sie könnten das gleiche wie ich. Doch auch wenn ich Henriette Pumpernickel hieße und Geschirrspüler verkaufte – niemand wird mir (oder Henriette) “gleich” sein.

Hilfe, meine Grenzen sind weg!

Unser heutiges Thema hat mit Projektionen zu tun, mit dem inneren Kern eines Menschen und seinen Grenzen. In solchen Situationen sind die Grenzen nämlich verloren gegangen. Und das tut nicht gut. Wenn man keine Grenzen hat, spürt man sich selbst nicht. Dann ist es ganz schwer, eine produktive Handlung zu entwickeln. Man wird sich beruflich oder wie auch immer kaum verändern können. Es fehlt ja die Selbstwahrnehmung.

Der innere Kern

Wo bin ich, und wo bist du? Was macht mich aus? Und wo beginnt eigentlich schon der andere? Ab und zu fällt es uns schwer, das wahrzunehmen. Wir merken nicht mehr, was unser innerer Kern ist. Stattdessen füllen wir ihn mit etwas auf, das gar nicht zu uns gehört. Oft wird der Begriff Projektion synonym zur Übertragung verwendet. Aus psychoanalytischer Sicht ist es aber nur ein Teil – und zwar der Teil, der unbewusste Wünsche in eine andere Person projiziert. Freud hätte jetzt sicher an eine sexuelle Beziehung gedacht, aber natürlich ist der Bogen viel weiter gespannt. Die Projektion ist bei Freud ein Abwehrmechanismus, man will sie nicht wahrhaben. Insofern gibt es Parallelen: Der junge Mann wollte seine unbewussten Wünsche auch nicht wahrhaben.

Projektion wird als Begriff auch in der Gestalttherapie verwendet. Dort denkt man ihn zusammen mit dem Thema Grenze. In der Gestalttherapie gibt es die so genannte Konfluenz, das ist ein Zustand ohne Grenzen zwischen mir und dem anderen oder den anderen. Ich merke dann nicht, wer ich bin und was mich ausmacht. Übertragen auf die Ich-Entwicklung, über die ich mehrfach schon geschrieben habe, wäre es ein Zustand des socialised minds nach Kegan oder eine E4 nach Loevinger (mit vielen Theorien kommt man oft zum gleichen).

Wer Grenzen hat, spürt eigene Bedürfnisse

In der Projektion entsteht dieser grenzenlose Zustand, weil Grenzen zwischen mir und anderen verwischen. Im Coaching geht es auch darum, diese Grenzen (wieder) herzustellen. Wer Grenzen hat, spürt Bedürfnisse. Er oder sie wird „nein“ sagen können. Und sich für Berufe und Tätigkeiten aus sich selbst heraus entscheiden können. Ich hatte ja ein paar Mal über manche Berufungscoachs „geschimpft“. Das Bild des inneren Kerns und der Grenzen liefert eine Erklärung, warum wir als Coach eine Verantwortung gegenüber „grenzenlosen“ Menschen haben, die eigentlich mit uns verschmelzen wollen – deren Problem also ganz woanders liegt.

Die Sache mit den Grenzen gilt auch andersrum: Wir projizieren andauernd auch Wünsche von uns selbst auf unsere Klienten. Begrenzen wir sie damit manchmal auch? Wenn ich als Coach nicht glaube, dass ein Vorhaben gelingen kann, ist das mein Glaube, keine Wahrheit. Ich übertrage meine eigenen Gedanken auf den anderen und übertrete damit Grenzen. Dass das passiert, lässt sich gar nicht vermeiden. Es geht mehr um den Umgang damit – wie kommuniziere ich etwas, welche Selbstaussage treffe ich dabei? „Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir das nicht vorstellen, aber es liegt an mir. Es ist nur mein Gefühl“, ist etwas anderes als „Das schaffen Sie NIE!“

Ich selbst habe oft von anderen gehört, dass meine Pläne und Vorhaben nicht aufgehen könnten. Mich hat das früher oft gebremst. Ich habe verschiedene Dinge nicht gemacht, die ich hätte machen können und wollen – weil ich es zugelassen habe, dass das Umfeld ihr „geht nicht“ in mich projiziert.  Es hat immer noch eine Wirkung, wenn mir nahestehende Personen etwas nicht „glauben“ oder nicht für möglich halten. Aber die Bremsfunktion ist weg – ich fahre trotzdem.

So habe ich sehr unmittelbar erfahren, dass man das, was man SELBST für möglich hält, auch realisieren kann, sofern man ein realistisches Bild von sich hat, und das erfordert eben diese eigenen Grenzen. Also: Her mit den Grenzen!

Einige Tipps zum Umgang mit Grenzen für Coachs:

  • Sprechen Sie an, was Sie wahrnehmen: „Ich nehme wahr, dass Sie sich stark mit mir identifizieren. Aber was sind denn Ihre Bedürfnisse? Welches Gefühl trägt Sie dabei DAS zu wollen?“
  • Stärken Sie die Bewusstheit über die eigene Persönlichkeit mit Ihren Bedürfnissen – und nicht etwa die Wunschvorstellung.
  • Konzentrieren Sie sich auf das, was den inneren Kern eines Menschen ausmacht. Erkunden Sie Bedürfnisse und spezifische Eigenschaften.
  • Sprechen Sie aus, wenn Sie selbst wahrnehmen, dass Sie eigene Bedürfnisse auf jemand projizieren („ich sehe, was Sie können. Deshalb entspricht es vielleicht nur meinem Wunsch, dass ich sie mir als X vorstelle.“)
  • Machen Sie starke Selbstblindheit bewusst, etwa mit dem sokratischen Dialog, mit dem Sie eine Annahme über sich selbst logisch ad absurdum führen – um dadurch Raum für neue Sichtweisen zu schaffen.
  • Wenn diese noch verschüttet sind von negativen Prägungen und Glaubenssätzen, arbeiten Sie z.B. mit dem inneren Kind oder bei dyfunktionalem Vergalten empfehlen Sie einen Therapeuten (sehr empfehlenswert auch: Stefanie Stahls Buch „Das Kind in dir will Heimat finden“)

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Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.

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