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Insecure Overachiever: Die Psychologie unsicherer Leistungsmenschen – und ihre innere Befreiung

Viele Menschen in Leistungsjobs sind große Zweifler an sich Selbst. Sie wirken nach außen sicher, aber sind innen drin leicht erschütterbar. Kritik von der richtigen, ihre Karriere bestimmenden Seite reicht, um den inneren Motor anzuzünden: Der Leistungsmensch arbeitet dann an sich, um besser zu werden. Er schleift Folien, merzt Fehler aus, investiert seine Zeit.
Der McKinsey-Berater Matias Dalsgaard prägte für diese Menschen den Begriff “insecure overachiever”, also unsichere Überleister. Solche Menschen, so las ich neulich, seien auch bei Firmen wie Rocket Internet explizit gesucht. Die Brandeins übersetzte das, was sie ausmacht, 2009 mit „noch wenig gefestigt“ – und der Autor Wolf Lotter trifft es damit gut. Seine eigene Identifikation findet dieser Mensch über das, was in seinem von ihm gewählten Umfeld als Erfolg definiert wird. Er selbst hat kaum einen inneren Kern jenseits vom aktuellen Kontext. Würde dieser wegbrechen, fiele das Selbstbewusstsein tief. Das ist bei allen Menschen so – bricht der Kontext weg -, wirkt das negativ aufs Selbstbewussstsein. Bei unsicheren Leistungsmenschen ist dieser Effekt aber deutlich stärker ausgeprägt. Es fehlt dann schmerzlich eine weitere, die Berufszugehörigkeit ausgleichende Identifikation – oder diese (noch) ist zu schwach ausgeprägt.
Vor-Leistung als Karrierestrategie
Unsichere Leistungsmenschen treten ständig in eine Art Vor-Leistung. Sie hängen sich in die Arbeit, um Anerkennung für ihr wankendes Selbst zu bekommen und Kritik und Minderleistung zu vermeiden. Schon in der Schule und im Studium kämpfen sie vor allem um eins: gute Noten und Anerkennung über Sehr-gut-Sein. Betrachtet man die Entwicklungsstufen nach Loevinger (hier habe ich drüber geschrieben), so sind diese Menschen trotz oft souveränem Auftreten sehr stark in der Gemeinschaftsstufe verankert. Sie möchten dazu gehören, aber einem elitären Kreis. Nach einer gewissen Zeit realisieren sie, dass es auch andere Lebens- und Karriereformen gibt, nach Loevinger wäre das der Eintritt in die rationalisierende Stufe. Anstrengender für Arbeitgeber werden sie, wenn Eigenbestimmtheit dazu kommt – also Loevingers Stufe 6. Wahrscheinlich werden sie beengende Kontexte verlassen, wenn sie deren Begrenztheit durchschauen – es sei denn monetäre Abhängigkeit hält sie. Dann könnten sie für Unternehmen zu Menschen werden, die man mitschleppen muss, die Dienst nach Vorschrift machen. Mit Menschen in der Phase des Übergangs in die Eigenbestimmtheit habe ich – so wie wahrscheinlich viele Berater und Coachs – oft zu tun. Diese Menschen suchen nach innerer Befreiung in einem veränderten Umfeld. Es ist ganz klar und eindeutig eine Altersfrage, noch mehr als das aber eine der Reife. Und Reife vollzieht sich nie theoretisch. Nur wer etwas erlebt hat, kann durchschauen, verstehen und plötzlich oder langsam erkennen, dass sein System ihm fremd geworden.
Ideal für Arbeitgeber
Das Muster aus extremen Anstrengungswillen und Selbstunsicherheit macht Leistungsmenschen anfällig: Verlieren sie den Job, fallen sie tief. Sie neigen auch zur Überanstrengung, die in den Burnout führen kann. Aus Arbeitgebersicht kann ich die Suche nach „Insecure Overachievern“ als Recruitingstrategie gut verstehen: Man bekommt so „die Besten“ in dem Sinne, dass es die sind, die sich am meisten reinhängen werden. Die auch das System akzeptieren können, die sich sozialisieren lassen. Das tun sie besonders in den hochkarätigen Jobs oft nicht blind – dazu sind sie zu intelligent -, aber kalkulierend. Mitarbeiter mit stärkerem Selbst sind immer auch ein größeres Risiko für ein System. Je größer die innere Unabhängigkeit, desto schwieriger wird eben auch die echte Integration (und nicht eine Pseudo-Integration über Abhängigkeit). Würden bestimmte Firmen nach wirklich innerlich unabhängigen Menschen suchen, so könnte ihr System aus den Fugen geraten. Doch ohnehin würden nicht passende Mitarbeiter schnell rausgepresst. Das scheint mir ein Dilemma für Recruiter – freue mich über Feedback aus eurer Sicht.
Was sollten unsichere Leistungsmenschen tun, wenn sie erkennen, dass etwas nicht mehr passt? Dass es einen Gap gibt zwischen ihren inneren Antreibern und dem System? Dass Zweifel da sind? Ich meine: Wer erkennt, wie ein System arbeitet und seine Subjektivität sieht, kann es eher verändern, als jemand, der es nicht tut. Es ist okay, nicht immer Höchstleistungen zu bringen. Wer zudem merkt, dass etwas anderes in ihm/ihr selbst „dran“ ist, kann danach suchen. Das kann man “Berufung” nennen, und das lässt sich unter diesem Label auch gut verkaufen. Im Grunde ist es aber Reifung – oder auch Befreiung von inneren Zwängen.
Feedback und Kritik sind kontextabhängig
Eigenbestimmtheit bedeutet immer auch Loslassen – und damit verbunden Befreiung von dem, was vorher fremd- oder gruppenbestimmt war. Es bedeutet, „nein“ sagen zu können auch zu dem, was vorher das Selbst bestimmt hat. Beispiel Kritik: Es ist wichtig, Feedback und Kritik anzunehmen. Aber Feedback und Kritik sind immer auch kontextabhängig. Wenn das Feedback aus dem gewohnten Kontext nicht mehr auf fruchtbaren Boden fällt, so gehört auch das zur inneren Befreiung. Vielleicht war es die Familie, die in die Leistungsspirale gedrängt hat, vielleicht die Freunde oder der Kontext, in den ein Mensch geraten ist.
Egal, jetzt geht es um etwas Neues, Anderes. Das ist anstrengend und vielleicht ein Wechselbad der Gefühle, aber was danach kommt, ist ein neues Selbst-Gefühl. Großartig.
Über Svenja Hofert

Svenja Hofert verbindet unterschiedliche Welten und Positionen. Dabei entwickelt sie neue und eigene Blickwinkel auf Themen rund um Wirtschaft, Arbeitswelt und Psychologie. Sie ist vielfache Buchautorin und schreibt hier unregelmäßig seit 2006. In erster Linie ist sie Ausbilderin und Geschäftsführerin ihrer Teamworks GTQ GmbH. Interessieren Sie sich für Ausbildungen in Teamentwicklung, Agilem Coaching und Organisationsgestaltung besuchen Sie Teamworks. Möchten Sie Svenja Hofert als Keynote Sprecherin gewinnen, geht es hier zur Buchung.
Moin Svenja,
Danke für diesen wieder mal spannenden Artikel. Aus Recruitersicht: wirklich innerlich unabhängige Menschen treff ich in normalen Interviews kaum. Es gibt wahrscheinlich in der Arbeitswelt zu wenig davon. Die halten es nämlich in den meisten Unternehmen nicht lange aus und gründen selber oder machen sich als Freiberufler von der Organisation unabhängig. Verirrt sich doch mal so jemand in ein Bewerbungsgespräch, muss er schon auf echte Führungskräfte treffen, die seine Art akzeptieren und damit umgehen können. Die gibt es aber leider auch selten. Unabhängigkeit ist kein gefragtes Gut in den Unternehmen …
Herzlichen Gruß,
Henrik
Und was macht man, wenn der persönliche Werdegang im CV genau das Gegenteil durchscheinen läßt?
Symptome, die Sie beschreiben, gehen häufig auf Einschärfungen und Antreiber zurück, aus denen innere Imperative entstehen. Das kann man sich wie eine innere Stimme vorstellen, die speziell unter Stress zu einem spricht. Demnach muss etwas unbedingt passieren oder etwas darf auf keinen Fall geschehen. Der Imperativ übernimmt dann die Oberhand über das Denken – was selbst an sich souveräne Menschen in schwierige Situationen bringen kann. Lösen lassen sich diese Imperative durch IntrovisionCoaching (www.introvision-coaching.de). Meine Coachees profitieren von der Arbeit am persönlichen Skript unter Verwendung der Sätze, die den Imperativ auflösen helfen oder zumindest den inneren Alarm reduzieren. Dadurch wird es möglich, mehr persönliche Sicherheit zu gewinnen und die eigenen (authentischen) Selbststeuerungskompetenzen zu aktivieren.
Guten Tag Frau Hofert,
auch unser Beraterteam macht im Talent Coaching die Erfahrung, dass viele Leistungsmenschen irgendwann erkennen, dass die bisherigen Antreiber nicht mehr funktionieren. Die Gründe, warum man sich beruflich anstrengt und die Werte, die wichtig sind und die erfüllt sein müssen, um zufrieden zu sein, haben sich verschoben. An den Stellen von Sicherheit, Erfolg und Anerkennung treten zum Beispiel Kollegialität, Abwechslung und Sinn. Wer seine Motivatoren kennt, kann den Gap zwischen seinen inneren Antreibern und dem System reduzieren. Unsere Leistungsmenschen sollten also ihre inneren Antreiber aufspüren, davon profitieren nicht nur sie selbst als Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber. Und das System wird um einiges menschlicher.
Herzliche Grüße aus dem Chiemgau
Silvia Schmid
Bestimmte Jobs sind dann nicht mehr drin. Möchte man die aber wirklich? Der Lebenslauf sagt in Ihrem Fall etwas anderes. Und es gibt andere Jobs.
Ach, das war Matias Dalsgaard. Und ich dachte, dieses Insecure-Overachievers-Zitat stammt vom ehemaligen McK-Deutschland-Chef, Jürgen Kluge. Ich hab’ mich ja ein bisschen an Business Schools umgeschaut und muss sagen: das Karriere-Verständnis hier ist immer noch recht technisch. Frei nach dem Motto: nur fleißig genug pauken bzw. dopen, dann klappt’s auch mit’m Traumjob. Wenn – dann, dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang wird wohl noch eine Weile so bleiben… Grüße!
[…] Viele Menschen in Leistungsjobs sind große Zweifler an sich Selbst. Sie wirken nach außen sicher, aber sind innen drin leicht erschütterbar. Kritik von der richtigen, ihre Karriere bestimmenden Seite reicht, um den inneren Motor anzuzünden: Der Leistungsmensch arbeitet dann an sich, um besser zu werden. Er schleift Folien, merzt Fehler aus, investiert seine Zeit. (Quelle: Karriereblog Svenja Hofert) […]
[…] fördern. Auch im Rekrutierungsprozess werden manchmal genau solche „Typen“ besonders gesucht: Man bekommt so „die Besten“ im Sinne, dass es die sind, die sich am meisten reinhängen werden. Übrigens gibt es dabei keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Meiner Erfahrung nach […]
Dieser interessante Artikel hat mich wieder einmal darin bestätigt, dass das aktuelle System nicht nach Eignung oder Motivation aussucht, sondern stark nach gewünschter Persönlichkeit. Ein Recruiter kann dieses Problem nicht lösen. Dazu wäre ein Umdenken in den Chefetagen notwendig, um die kreativen, intelligenten Köpfe zu integrieren, die momentan nicht “reinpassen”, weil sie schon in jungen Jahren feste innere Wertsysteme besitzen, oder die Handicaps haben (z.B. ADHS, Asperger u.a.). Solange die Gesellschaft es sich leisten kann (sowohl finanziell als auch sozial), haufenweise begabte Menschen auszugrenzen, wird sich aber nichts ändern.